Warum sind Hauptfiguren oft so langweilig? – Einige Gründe und Lösungen

Es ist eine relativ weit verbreitete Erfahrung unter Lesenden, dass die Hauptfigur oft die langweiligste Figur aus einer Geschichte ist. Naja, „langweilig“ geht vielleicht ein bisschen weit, vielleicht trifft es „uninteressant“ eher.  Woran liegt das? Diese Frage wurde neulich von Victoria (Twitter, LinkTree) auf Twitter gestellt und war für mich der Auslöser, mich tiefergehend mit der Frage zu beschäftigen. Warum schreiben wir, als Autor*innen, so langweilige Hauptfiguren? Und was können wir dagegen tun?

Bevor ich beginne …

Ich sehe immer mal wieder, dass „langweilig“/“uninteressant“ bei der Beschreibung von Figuren gleichgesetzt wird mit schlechter oder flacher Charakterentwicklung. Das stimmt – zumindest für mich – nicht notwendigerweise. Flache Figuren können in einer passenden Geschichte sehr viel Spaß machen. Andererseits können Figuren eine sehr große Charaktertiefe besitzen und trotzdem uninteressant sein.
„Langweilig“/“uninteressant“ beschreibt wie die einzelne lesende Person die Figur wahrnimmt (und ist damit sehr subjektiv) und „flach“ beschreibt etwas objektiver wie viel Charakterentwicklung handwerklich stattgefunden hat. Diese Unterscheidung finde ich wichtig, um präzise über langweilige Figuren reden zu können.

Aber beginnen wir mit dem tatsächlichen Thema dieses Artikels:

Gründe für uninteressante Hauptfiguren

Dass die Hauptfigur(en) einer Geschichte oft als am langweiligsten wahrgenommen werden, ist im ersten Moment wahrscheinlich überraschend. Immerhin verbringen die Lesenden am meisten Zeit mit ihnen und es wurde wahrscheinlich die meiste Zeit in ihre Charakterentwicklung gesteckt. Da sollte man meinen, dass besonders bei der Hauptfigur keine Langeweile aufkommt.
Doch ich halte diese Langeweile (oder vielleicht auch Frustration?) für sehr natürlich. Dafür gibt es vier Gründe, die einzeln oder gesammelt auftreten können.

1. Die Hauptfigur als Identifikationsperson

Beim Schreiben wird oft angenommen, dass die Hauptfigur die Identifikationsperson der Lesenden sein wird. Da möchte man natürlich eine sympathische Hauptfigur schreiben, die möglichst viele Menschen widerspiegelt. Es stellt sich also schnell eine gewisse Vorsicht ein, der Hauptfigur zu starke Eigenschaften – egal ob positiv oder negativ – zu geben. Denn wenn die Hauptfigur keine besonders herausragenden Charakterzüge hat, dann kann man sich auch nicht an ihnen stören und wenn man sich an etwas nicht stört, dann mag man es, richtig?

Ich verstehe diesen (für die Deutlichkeit absichtlich überspitzten) Gedankengang, aber ich stimme ihm nicht zu. An einer (Haupt)Figur ohne Kanten, kann ich mich zwar nicht aktiv stören, aber festhalten – oder identifizieren – kann ich mich auch nicht. Tatsächlich mag ich Figuren mit einigen unsympathischen Eigenschaften oft viel lieber. Darauf bin ich in dem Artikel Unsympathische Handlungen und Charakterentwicklung schon im Detail eingegangen.

2. Lücken machen interessant

Die Hauptfigur kommt am häufigsten vor, also weiß man auch am meisten von ihr. Logisch. Das heißt es gibt selten „Lücken“ in ihrem Charakter oder der Hintergrundgeschichte, die von unterschiedlichen Leser*innen unterschiedlich/spekulativ gefüllt werden können. Diese fehlenden Lücken machen die Figur statischer und damit oft uninteressanter.
Im Vergleich dazu sind Nebenfiguren zwar meist weniger definiert, aber eignen sich hervorragend dafür, die eigene Fantasie spielen zu lassen und ihnen Eigenschaften oder Details zuzuschreiben, die (subjektiv) passend erscheinen. Und wenn eine Figur die Fantasie anregt, dann ist sie automatisch interessanter als eine die es nicht tut.

3. Confirmation Bias

An eine langweilige Hauptfigur erinnert man sich eher als an eine langweilige Nebenfigur, denn eine Nebenfigur kann man „überlesen“, eine Hauptfigur jedoch nicht. So bleiben uninteressante Protagonist*innen eher in Erinnerung und wenn man dann erneut auf eine uninteressante Hauptfigur trifft, kommt eher das Gefühl von „Och nee, nicht schon wieder“ auf. Dann beginnt man mehr darauf zu achten und die uninteressanten Hauptfiguren fallen einem noch mehr auf und – zack! – Confirmation Bias (= die Neigung, Informationen so auszuwählen, ermitteln und interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen).

4. Statistische Wahrscheinlichkeit

Dieser Punkt mag ein wenig platt sein, aber ich habe tatsächlich noch nicht gesehen, dass irgendwer darauf eingegangen ist: Dass man Nebenfiguren interessanter findet als die Hauptfigur, ist statistisch wahrscheinlich. Eine Geschichte hat oft nur eine, vielleicht zwei oder drei Hauptfiguren, aber meist über ein Dutzend Nebenfiguren. Die Chance, dass eine beliebige Nebenfigur eher den eigenen Geschmack trifft als die Hauptfigur, ist groß.

Für mich als Schreibende war diese Erkenntnis der Wahrscheinlichkeit sehr befreiend. Ich habe das Gefühl, dass viel Fokus darauf gelegt wird, eine Hauptfigur zu schreiben, die besonders interessant und besonders packend, aber gleichzeitig besonders sympathisch ist. Dann festzustellen, dass – neben dem Handwerk und der Umsetzung – auch noch ein gewisser „Zufallsfaktor“ am Werk ist, kann helfen etwas Druck zu nehmen.

Wie kann man Hauptfiguren also interessant(er) machen?

Beginnen wir mit einer Gegenfrage: Muss eine Hauptfigur überhaupt interessant sein? Meine persönliche Antwort darauf ist ein schwaches Ja. Eine Geschichte besteht aus mehr als aus ihren Figuren. Ein mitreißender Plot, tiefes Worldbuilding und Sprache können genauso fesseln. Deswegen braucht es nicht notwendigerweise eine interessante Hauptfigur in jeder Geschichte. Ist eine interessante Hauptfigur hilfreich? Definitiv, aber notwendig ist sie nicht.
(Natürlich sollte es trotzdem ein Ziel für Schreibende sein, ansprechende (Haupt)Figuren zu schreiben. Nur weil etwas nicht notwendig ist, heißt nicht, dass man keine Mühe reinstecken sollte.)

Hauptfiguren interessanter machen

Wenn wir jetzt zu der zweiten Ausgangsfrage „Und was können wir gegen langweilige Hauptfiguren unternehmen?“ zurückkehren, dann fällt schnell auf, dass Vieles außerhalb des eigenen Einflusses liegt. Gegen die Mathematik und die statistische Wahrscheinlichkeit lässt sich wenig tun. Auch der möglicherweise bereits bestehende Confirmation Bias, der Lesende dazu verleiten kann, Hauptfiguren schneller negativ zu bewerten, ist erstmal nicht veränderbar. Und auch, dass Hauptfiguren im Vergleich mit Nebenfiguren kaum Lücken zum Hineinprojizieren haben und damit weniger die Fantasie anregen, ist Teil ihrer Rolle in der Geschichte.

Bleibt also nur noch der tatsächliche Charakter und die Eigenschaften der Hauptfigur, um die Wahrnehmung der Hauptfigur zu verändern. Ob Eigenschaften und Charakter interessant sind, ist wiederum subjektiv. Einen kleinen Punkt gibt es allerdings: In dem Versuch nicht anzuecken, wird viel Interessntes aus der Figur herausgewaschen. Das heißt also, dass Schreibende nicht davor zurückschrecken sollten, ihren Hauptfiguren starke Eigenschaften – positiv wie negativ – zu geben, selbst wenn man damit riskiert, dass manche Lesende sie nicht mehr mögen.

… aber das kann doch nicht alles sein. Das ist ein Ergebnis, das sich zwar im ersten Moment gut und richtig anhört – und es wahrscheinlich auch irgendwie ist – aber das nicht bei der tatsächlichen Bewältigung des Problems hilft. Es kann doch nicht sein, dass die Lösung für langweilige Figuren „dann mach sie halt interessanter“ ist. Was für ein enttäuschendes Fazit.

Ein (unausgereifter) Gedankenanstoß

Eine Hauptfigur hat durch ihre Rolle in der Geschichte mit vielen äußerlichen Beschränkungen zu kämpfen. Diese Beschränkungen führen dazu, dass Hauptfiguren leichter als langweilig wahrgenommen werden als andere Figuren in der Geschichte. Aber denk daran, dass (Haupt)Figuren nicht in einem Vakuum stehen.
Anstatt dir also ausschließlich um das „Was“ Gedanken zu machen – Was macht die Figur aus? Was für Eigenschaften und Charakterzüge hat sie? – kannst du stattdessen versuchen, das „Wie“ – also die Interaktion mit oder Stellung in deinem Plot – zu beeinflussen. Um es bildlich auszudrücken: Ein Hammer ist vielleicht eines der einfachsten (und damit langweiligsten?) Werkzeuge, aber wenn man mit ihm nicht nur Nägel in Bretter schlägt, sondern ihn kreativ einsetzt, kann auch ein Hammer wahnsinnig interessant werden.

 


Was denkst du? Bist du schon vielen langweiligen Hauptfiguren begegnet und wie kann man sie ändern, damit sie interessanter werden? Fallen dir noch andere Gründe ein wieso Hauptfiguren so oft als langweilig empfunden werden?

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3 Replies to “Warum sind Hauptfiguren oft so langweilig? – Einige Gründe und Lösungen”

  1. Charles says:

    Ich wage Mal eine These: Langweilige Hauptfiguren sind nicht halb so lästig wie offensichtliche Fehler, oder wenn ich als Lesender merke, das passiert (Handlung/Erklärung) nur für mich, da die Schreibenden mir nicht zutrauen den Kontext zu verstehen.
    Bestes Beispiel gestern beim Lesen. Eine Gruppe Jugendlicher bekommt eine klare Aufgabe (auf dem Papier steht: gehe zu Punkt x, hole Gegenstand y und löse Aufgabe z).
    Klar formuliert und das hat meine geistigen Kapazitäten auch um zwei Uhr nachts (hallo schlaflose Nacht) nicht überfordert. Warum musste also die Anweisungen noch einmal wiederholt werden (jede Figur liest eines der Sätze vor, rätselt kurz was damit gemeint ist, und dann „verstehen“ sie es erst?) Es ist weder in rätselform geschrieben, noch sonst „verschlüsselt“ und auch kein Buch für Kinder.
    Und es passiert ebenso häufig in Büchern, das offensichtliche Lösungen ignoriert werden und stattdessen Probleme konstruiert werden.

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  2. Faehe says:

    Ehrlich gesagt fallen mir gerade nicht viele langweilige Figuren ein 😅. Liegt aber vielleicht daran, dass ich diese Bücher auch vergessen habe 🤔. Außer bei Niebla – der Protagonist hat mich so gelangweilt, dass ich mich immer noch an ihn erinnere T-T. Eine weitere These, warum Protanist*innen langweilig sein könnten, wäre für mich, dass eine Nebenfigur zu interessant entwickelt wurde. Die nimmt dann dem/der Prota die Bühne. Mir fällt da spontan nur Harry Potter ein. Also er ist für mich jetzt allgemein kein langweiliger Prota, aber manchmal haben ihm Nebenfiguren wie Sirius oder Neville die Show gestohlen 😅.

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