[Szenenanalyse] Unsympathische Handlungen und Charakterentwicklung – Tokyo Revengers

Ich schaue in letzter Zeit einige Animes und weil ich keine Cliffhanger mag, kaufe ich mir dann die Mangas, um die Geschichte weiterzuerleben. Dabei kommt es unweigerlich dazu, dass ich Szenen aus Anime und Manga vergleiche und Veränderungen bemerke. Manche Veränderungen sind logische Konsequenzen einer Adaption: Leichte Unterschiede in Charakterdesign oder Kamerawinkel zum Beispiel, manchmal auch eine Anpassung der Reihenfolge der Ereignisse. Spannend wird es für mich, wenn sogar Plotpunkte abweichen. So einen Fall gibt es auch in dem Anime/Manga Tokyo Revengers und das möchte ich hier analysieren. Wie können unsympathische Handlungen von Figuren, deine Geschichte verbessern?

(Keine Sorge, du musst Tokyo Revengers nicht gelesen haben und es gibt auch keine Spoiler. Alles, was ich beschreibe ist von dem Beginn des ersten Kapitels bzw. der ersten Folge.)

Ein kurzer Überblick über die Szene

Eine Seite aus dem Manga Tokyo Revengers. Takemichi zerkratzt mit einer Münze den Lack eines teuren Autos. Er wird dabei erwischt und rennt davon.Die Ausgangssituation ist in Anime und Manga gleich. Die Hauptfigur Takemichi ist ein Loser. Er ist in einem Job, den er hasst und in dem er nicht geschätzt wird, seine Wohnung ist heruntergekommen, seine Nachbarn hassen ihn, er hat keine Freunde, kein Geld und keine Möglichkeit, seine Situation zu verbessern. Kurzgesagt: Sein Leben ist scheiße. Nachdem er einen besonders frustrierenden Arbeitstag hinter sich hat, ist Takemichi auf dem Weg nach Hause und …

  • Im Manga
    … zerkratzt mit einer Münze im Vorbeigehen aus Verbitterung ein teures Auto, das am Wegrand parkt.
  • Im Anime
    … begegnet ein paar Kindern, die auf einem teuren Auto herumklettern, ihn von der Seite anmachen, das Auto zerkratzen und dann weglaufen.

Daraufhin kommt der Besitzer des Wagens zurück, sieht das zerkratzte Auto und Takemichi, der dafür (augenscheinlich) verantwortlich ist, und Takemichi rennt davon.

Warum die Änderung von Manga zu Anime?

Ich kann zwar nur spekulieren, warum diese Änderung gemacht wurde, aber ich halte die Antwort für relativ offensichtlich: Absichtliche Sachbeschädigung macht Takemichi unsympathisch. Es gibt keinen „noblen“ Grund, warum Takemichi das Auto zerkratzt. Takemichi ist verbittert und mit seiner Lebenssituation unzufrieden und lässt das an jemandem aus, der aus seiner Sicht in einer besseren Lebenslage ist. Und eine Geschichte mit einem unsympathischen Protagonisten zu beginnen, ist nicht unbedingt die einfachste Aufgabe und kann die Lesenden bzw. Zuschauenden verschrecken.
Dann ist da außerdem die Möglichkeit, dass jüngere Zuschauer*innen diese Szene zum „Vorbild“ nehmen könnten, etwas Vergleichbares zu machen.
Die Entscheidung, die Szene anzupassen, ist also generell nachvollziehbar.

Unsympathische Handlungen sind wertvoll

Auch wenn die Änderung von Manga zu Anime klein ist und – realistisch gesehen – keine nennenswerten Auswirkungen auf den Plot hat, hat mich diese Änderung lange beschäftigt. Denn die Mangaversion der Ereignisse ist sowohl aus Plot- als auch aus Charakterentwicklungsgründen deutlich aussagekräftiger.

Was lernen wir im Anime über Takemichi?

Die Szene im Anime unterstreicht die Informationen, die wir sowieso schon über Takemichi wissen: Er ist ein Loser und sogar Kinder haben keinen Respekt vor ihm. Dass er wegrennt, als der Besitzer des Autos auftaucht, lässt vermuten, dass er wahrscheinlich Angst vor Konfrontation hat. Vielleicht fehlen ihm auch die sozialen Fähigkeiten (oder das Selbstbewusstsein) sich einer wütenden Person entgegenzustellen.
Aber beides wird – zumindest in dieser Situation – nicht als starke negative Eigenschaft dargestellt, weil Takemichi nicht Schuld an der Beschädigung des Autos ist. Dass er die Kinder nicht versucht aufzuhalten, ist leicht damit erklärt, dass er von der Situation überrumpelt wurde. Er kommt also aus dieser Szene immer noch als sympathische Figur heraus. Man könnte sogar schließen, dass Takemichi einfach nur Pech hat, schließlich ist das Verhalten der Kinder nicht sein verschulden.

Soll heißen: Wir lernen nicht wirklich etwas Neues von Takemichi, sondern bekommen nur noch einmal bestätigt, was wir schon über ihn wissen. Die Autozerkratzszene gibt nicht wirklich viel Mehrwert, aber sie erfüllt ihren Zweck, indem sie Takemichis Loser-Dasein noch einmal aus einem anderen Winkel beleuchtet.

Was lernen wir im Manga über Takemichi?

Dass Takemichi im Manga das Auto selbst zerkratzt, ist zwar unsympathisch, aber aus dem Blickwinkel der Charakterentwicklung unglaublich faszinierend. Das Auto einer unbekannten Person ohne triftigen Grund zu beschädigen, ist eine Handlung, die die Lesenden nicht so schnell vergessen werden.
Was lernen wir mit dieser Aktion also über Takemichi?

  • Er will eigene Entscheidungen treffen bzw. sucht (die Illusion) von Kontrolle.
  • Er macht sich keine Gedanken um Konsequenzen bzw. die Zukunft. (Das erklärt auch, wie er in seiner aktuellen Situation gelandet ist.)
  • Wenn es Konsequenzen drohen, rennt er davon.

Das Geniale? Genau das sind die Schwächen und Wünsche, mit denen er sich für den Rest der Geschichte auseinandersetzen muss. Anstatt nur eine Bestärkung schon bestehender Informationen zu haben – wie es im Anime der Fall ist – bekommen die Lesenden in nur wenigen Panels Takemichis gesamten Charakter vorgestellt. Eine thematische Zusammenfassung seiner Rolle in der Geschichte quasi.

Notiz am Rande: Außerdem ist das Autozerkratzen eine aktive Handlung und die Reaktion auf das Zerkratzen durch die Kinder „nur“ eine, nunja, Reaktion. Im Manga ist Takemichi also von Beginn an ein aktiver Protagonist und das ist für Geschichten grundsätzlich etwas Positives.

Unsympathische Handlungen treiben Charakterentwicklung

Diese Unsympathie, die Takemichi in der Szene hervorruft, zeigt klare Schwächen auf, die er zukünftig überwinden lernen muss. Er muss lernen die Konsequenzen seiner Handlungen abzuschätzen und er muss lernen, sich diesen Konsequenzen zu stellen. Das sind alles sehr einfache und greifbare „Ziele“, die für die Lesenden messbar sind. Diese Ziele sind im Anime durch die Änderung deutlich undefinierter.
Ich möchte hier nochmal betonen: Das ist nichts wirklich Schlimmes. Die Szene im Anime funktioniert als Betonung der Lebenssituation von Takemichi, aber sie tut eben nicht viel mehr. Das ist schade, weil die Szene im Manga – so unscheinbar sie auch sein mag – für mich eine „Anker“szene für Takemichis Charakter ist.

Unsympathische Handlungen in deiner Geschichte?

Unsympathische Handlungen sind ein zweischneidiges Schwert, denn es gilt eine Balance zu treffen. Die unsympathische Handlung sollte nicht zu gemein sein – denn dann mögen deine Lesenden die Figur vielleicht nicht mehr und wollen im schlimmsten Fall nicht mehr weiterlesen – aber eine Handlung, die zu nichtssagend ist, hilft dir auch nicht für deine Charakterentwicklung. Aber welche Handlungen sind entschuldbar und welche nicht? Wo ist die Grenze?

Tja, darauf gibt es wie immer keine eindeutige Antwort. Es ist situations- bzw. szenenabhängig und dazu kommt die persönliche Einschätzung deiner Lesenden. Letztendlich möchte ich auf Folgendes hinaus: Unsympathische Handlungen erlauben es, deinen Protagonist*innen zu wachsen und das ist etwas sehr wertvolles.
Hab also keine Angst, deine Figuren auch in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. Wenn du es bedacht einsetzt, dann kann es zu genialen Szenen führen.


Wie stehst du zu den beiden Szenen aus Anime und Manga? Welche gefällt dir besser?

Teilen mit:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert