Das Tal der Mittelmäßigkeit – Ein künstlerisches Paradox

Ich habe schon einmal über die Falle der Mittelmäßigkeit geschrieben, damals habe ich es „Die passable Geschichte“ genannt. Doch es beschäftigt mich erneut, aber diesmal unter einem anderen – und vielleicht etwas differenzierteren – Aspekt. Denn ich kann gute Bücher genießen und ich kann schlechte Bücher genießen, wenn auch aus einem ganz anderen Grund. Aber mittelmäßige Bücher sind oft einfach nur … langweilig.

Das Tal der Mittelmäßigkeit

Eigentlich ist zu erwarten, dass der Lesespaß an die Qualität des Buches geknüpft ist. Doch diese Verbindung gibt es in meiner Erfahrung eher selten. Stattdessen sieht es mit dem Lesespaß meistens so aus:

grau = erwartetes Lesevergnügen; grün = tatsächliches Lesevergnügen, rot = Langeweile

Es kann Spaß machen schlechte Bücher zu lesen, genauso wie es Spaß machen kann schlechte Filme zu sehen. Diese Art von Spaß ist von der schreibenden Person zwar nicht beabsichtigt, aber die Absurdität der Geschichte oder einfach der „Trash-Faktor“ kann extrem unterhaltsam sein – trotz objektiv schlechtem Handwerk oder unpassendem Ablauf der Geschichte.
Dem (unbeabsichtigten) Trash-Buch steht das „gute“ Buch gegenüber, das mit packender Handlung, lebendigen Figuren und/oder mitreißendem Plot überzeugt.

Aber dazwischen liegt das Tal der Mittelmäßigkeit, in dem es paradoxerweise müßiger zu lesen ist, als wenn man ein schlechtes Buch in der Hand hat. Woran liegt das?

Was ist Mittelmäßigkeit?

Die Frage nach der Mittelmäßigkeit ist schwierig, weil sie nicht einfach zu definieren ist. Sie hängt ab von dem eigenen Leseverhalten, den eigenen Erfahrungen und Erwartungen und auch von dem Handwerk/Stil des Buches. Jeder wertende Begriff, den ich also in diesem Kontext benutze, ist zu einem gewissen Grad eine subjektive Einschätzung. Mein mittelmäßig kann dein schlecht sein, und dein mittelmäßig mein genial. Deswegen wird dieser Artikel insgesamt auch ein wenig abstrakt bleiben in seinen Formulierungen.

Hinweis: Ich spreche übrigens in diesem Artikel auch nur von dem Unterhaltungsfaktor und nicht dem Inhalt einer Geschichte. Eine Geschichte mit beispielsweise menschenfeindlichen Botschaften fällt direkt aus der Skala heraus, weil sie für mich unlesbar ist.

Der Sinn eines Buches ist es, zu unterhalten. Ob es dabei auf die des Schreibenden intendierte Art unterhält oder auf eine andere, ist zweitranging. Solange das Buch unterhält, erfüllt es seine Aufgabe. Die schlimmste Sünde, die ein Buch begehen kann, ist zu langweilen. Und genau das passiert bei einem mittelmäßigen Buch: Langeweile.

Wie entsteht Langeweile beim Lesen?

Langweile kann auf viele verschiedene Arten entstehen, aber gerade in Geschichten gibt es drei einfach zu identifizierende Hauptkandidaten:

  1. vorhersehbarer Plot
    Egal, ob der Plot zu einfach, zu bekannt (wegen verbreiteter Geschichtenstrukturen) oder auch zu deutliches Foreshadowing enthält, ein vorhersehbarer Plot kann vieles an Spannung aus der Geschichte nehmen.
  2. ausdruckslose Figuren
    Wenn die Figuren keine interessanten Entscheidungen treffen und nur blasse Charaktereigenschaften haben, wird kaum Unterhaltung aufkommen.
  3. uninteressante Schreibstimme
    Ist auch noch der Schreibstil schleppend, müßig oder einfach charakterlos, ist die perfekte Dreifaltigkeit der Langeweile einer Geschichte erreicht.

Aber gleichzeitig ist wichtig zu erkennen: Es braucht nur einen interessanten Aspekt aus dieser Auflistung und schon ist die Geschichte nicht mehr im Tal der Mittelmäßigkeit. Der Plot ist vorhersehbar, die Schreibstimme nichts besonderes, aber die Figuren springen quasi von den Seiten? Dann ist das Buch vielleicht nicht herausragend, aber es ist weit entfernt von mittelmäßig.

Was bedeutet das für dein Schreiben?

Wenn du selber Geschichten schreibst, ist das Tal der Mittelmäßigkeit ein schwieriger Abschnitt des Lernens, dessen Durchquerung viel Durchhaltevermögen erfordert. Denn obwohl du handwerklich Schritte nach vorne machst, fühlt es sich so an, als würden deine Geschichten mit jeder „Verbesserung“ schlechter, langweiliger. Das ist eine wahnsinnig frustrierende Erfahrung.
Diese Erfahrung wird auch nicht dadurch einfacher gemacht, dass du von Testlesenden oder Freunden, die deine Geschichten lesen, möglicherweise unterschiedliches Feedback bekommst, das sich nicht mit deiner eigenen Wahrnehmung deckt.

Wie kommst du also durch das Tal der Mittelmäßigkeit?

Identifiziere deine „Probleme“

Frage dich: Was genau an deiner Geschichte fühlt sich langweilig an? Versuche in deiner Antwort so präzise wie möglich zu werden. Wenn dein Problem bespielsweise bei den Figuren liegt, versuche genau die Aspekte zu benennen, die dir Schwierigkeiten bereiten. Ist es ihr Ausdruck von Gefühlen? Ihr Dialog mit anderen Figuren? Fehlt ihnen Substanz? In welchen Szenen fällt es dir besonders auf und warum gerade dort? Sind alle Figuren betroffen oder nur Hauptfiguren/Nebenfiguren? Was unterscheidet sie? und und und.
Je präziser du in diesem ersten Schritt wirst, desto einfacher wird es später, eine Verbesserung oder sogar Lösung für dein Problem zu erreichen.

Kenne die Regeln

Frage dich als nächstes: Gibt es bereits Schreibregeln oder Tipps, die sich genau mit diesem Problem beschäftigen? Welche Lösungen haben sich in der Welt des Schreibens bereits etabliert.
Hier rate ich dazu, ganz losgelöst von deinem Text zu recherchieren. Wichtig ist vor allem, dass du einen guten Überblick, über die Regeln, Konventionen und Erwartungen deines Geschichtentyps hast. (Es ist übrigens auch hilfreich, in Büchern die du magst nachzulesen, wie „deine“ Probleme umgangen werden.)
Nachdem du also die Regeln gesammelt hast, kannst du zum nächsten Punkt übergehen.

Wie kannst du die Regeln für deine Geschichte anpassen?

Ein „Fehler“ – und Fehler ist in Anführungsstrichen, weil es nicht wirklich falsch ist – den viele Schreiberlinge anfangs machen, ist, die bekannten Regeln 1:1 auf ihre Geschichte anzuwenden. Das kann super funktionieren, aber oft ist es von Vorteil sich die Regeln genau anzuschauen, sie zu analysieren und zu entscheiden, wie sinnvoll sie für deine Geschichte sind (und in welchem Ausmaß du sie umsetzen möchtest). Wie du dabei am besten vorgehst, habe ich schon in meinem Artikel „Schreibtipps richtig interpretieren und anwenden“ im Detail erklärt, deswegen hier nur die Kurzversion.

Stelle dir die folgenden vier Fragen:

  1. Welchen Fehler soll die Schreibregel korrigieren? (= dein Problem)
  2. Warum ist das ein Fehler?
  3. Wie würde eine Änderung (durch die Schreibregel) deine Geschichte verbessern?
  4. Wann solltest du den Schreibtipp nicht anwenden?

Entscheide basierend auf deinen Antworten, inwiefern es sich lohnt eine Schreibregel für die Verbesserung einer Geschichte umzusetzen. Mit ein bisschen Übung und Aufmerksamkeit wirst du schnell merken, wie die Langeweile aus deinen Geschichten verschwindet.


Bist du schon mittelmäßigen Büchern begegnet? Welche waren es?

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5 Replies to “Das Tal der Mittelmäßigkeit – Ein künstlerisches Paradox”

  1. Lew Marschall says:

    Hi Sina, wieder ein toller Post von dir mit vielen Einsichten.
    Langweile ist wirklich das schlimmste, was Lesern angetan werden kann. Das ist übrigens nicht nur in Romanen so, sondern wird auch von Fachbüchern und Blogs erwartet. 🙂

    Ein Aspekt fällt mir noch ein, den ich einmal in einem interessanten Artikel gelesen hatte, den ich leider nicht mehr finden kann.
    Es scheint bei Autoren zwei Gleise zu geben. Hervorragende Handwerker und begabte Geschichtenerzähler.
    Als Beispiel wurde Dan Brown genannt, dessen Handwerkszeug mittelmäßig ist, was Figuren, Cliches, Schreibstil usw. anbelangt.
    Seine Fähigkeit jedoch, Mythen zu erschaffen und Geschichten, die fesseln, ist einzigartig.

    Das Fazit des Artikels legt nahe, sich nicht im Schreibstil zu verzetteln, sondern daran zu arbeiten, wie gute Geschichten erzählt werden.

    Danke für deinen Artikel.
    LG
    Lew

    Antworten
  2. schreibfaehe says:

    Hi^^.
    Ich finde den Tipp mit den vier Fragen toll und auch das durchleuchten der Regeln. Das werde ich auf jeden Fall ausprobieren. Es wäre halt eigentlich ganz ganz gut, wenn es ein Archiv gäbe, indem die Bücher mit den gut angewendeten Regeln stehen würden *grübel*. Allerdings finde ich es jetzt nicht so schlimm durch das Tal der Mittelmäßig zu waten. Wenn jede Geschichte außergewöhnlich wäre, dann wäre das Schreiben keine Herausforderung und würde keinen Spaß machen^^.
    Viele Grüße,
    Faehe

    Antworten
    1. Sina Bennhardt says:

      Ein Archiv gibt es nicht, aber ich versuche ein bisschen mit meiner Reihe „Szenenanalyse“ dran zu arbeiten, ein paar Beispiele zusammenzutragen. Da hebe ich gute (oder nicht so gute) Umsetzungen von Schreibstrategien hervor. Allerdings ist das ja auch alles immer sehr subjektiv, ob eine Umsetzung gut funktioniert hat oder nicht. Und man muss halt auch erstmal ein gutes Beispielbuch finden 😀 Alles nicht so einfach^^“
      LG Sina

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  3. uberlaufer says:

    Stimmt. Ich kann nur zustimmen. Ich liebe Schlefaz. Diese Metaebene, dass Menschen so kläglich scheitern Kunst zu fabrizieren, kann schon unterhaltsam sein.

    Ich denke, dass das Problem bei der Mittelmäßigkeit ist, dass es eben nichts besonderes ist. Bei den guten ist es eben die spannende Handlung oder die authentischen Charaktere, während es bei den schlechten eben das Scheitern ist. Bei den mittelguten Werken fehlt eben beides: Die echte Kunst und die gewollte Kunst.

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    1. Sina Bennhardt says:

      Ganz genau!
      Und das ist es eben, was als kunstschaffende Person so schwierig macht: Das Handwerk hat sich von schlecht zu okay verbessert, aber der (vielleicht ungewollte) Unterhaltungswert verschwindet und so fühlt es sich an, als wäre man tatsächlich schlechter geworden.

      Antworten

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