Rechercheergebnisse nahtlos in Geschichten einbauen – Äußerliche und innerliche Perspektive

Das Thema der Wiedergabe und Einbindung von Rechercheergebnissen in Geschichten ist auf diesem Blog nicht neu. Ich habe dazu schon einen Artikel geschrieben, in dem es um das Anpassen der Ergebnisse an die eigene Schreibstimme geht: Recherche in deiner Geschichte richtig wiedergeben. Allerdings ist eine unpassende Schreibstimme nicht das Einzige, was deine Recherche sehr offensichtlich machen kann. Ein weiterer, oft unbeachteter, Aspekt ist die Perspektive.

Schreibstimmenmode und Perspektive

Es ist aktuell sehr in „Schreibmode“, die eigenen Geschichten aus einer – aus Sicht der Figuren – sehr persönlichen und emotionsfokussierten Perspektive zu schreiben. Das kann man an beliebten Schreibtipps wie z.B. Show, don’t tell sehen. Aber auch ein Blick in etwas ältere Bücher wie Krabat von Ottfried Preußler (1971) zeigt einen ganz anderen, erzählerischeren Schreibstil.
Was hat das mit der Einbindung von Rechercheergebnissen zu tun? Auf den ersten Blick erstmal nicht so viel, das gebe ich zu, aber der Teufel steckt wie immer im Detail und gerade hier haben die Details eine unglaublich große Auswirkung.

In einem erzählerischen Schreibstil erlebt man die Geschichte von außen. Klar, werden Emotionen erzählt und z.B. die Tragik von Situationen geschildert, aber man befindet sich nicht/nur selten im Kopf der Figuren. Ein Erleben der Szenen aus „erster Hand“ gibt es nicht, denn der Erzähler steht immer ein wenig dazwischen.
In dem aktuell modischen Schreibstil hingegen befinden sich die Lesenden meist direkt im Kopf der Figuren — sei es nun durch einen Ich- oder personalen Er-/Sie-Erzähler. Das reduziert die Distanz zu den Figuren deutlich und schiebt den Fokus der Geschichte vom Erzählen zum Erleben.

Die Perspektive der Recherche

Wenn sich ein Schreiberling an die Recherche eines Themas setzt, dann ist der Fokus meist auf (wissenschaftlicher) Korrektheit. Das ist wichtig, richtig und nachvollziehbar. Schließlich möchte man seinen Lesenden ein korrektes Bild vermitteln und die Geschichte soll auch für Experten lückenlos logisch sein. Soweit ist alles gut. Doch wissenschaftliche Texte sind quasi per Definition aus einer beobachtenden Perspektive geschrieben. Das passt nicht zu der erlebenden Perspektive der Geschichte.

Hier kommen wir zu dem Problem, das so unglaublich schwierig zu greifen und zu erklären ist: Die recherchierten Informationen sind oft korrekt, aber die Darstellung der Situation fühlt sich lückenhaft an. Es fehlen die essentiellen Wahrnehmungen des Erlebens.

Beispiel 1: Blutverlust

In vielen Geschichten – zumindest in den Genres, in denen ich mich bewege – gibt es relativ viel physische Gewalt und da muss man sich als Schreiberling mit den Auswirkungen dieser Gewalt auseinandersetzen. Die Auswirkungen von Blutverlust sind meist ein großes Thema. Aber das kann man ja einfach nachschauen. Die Symptome sind durch eine Googlesuche (Quelle: gesundheit.gv.at) schnell gefunden:

  • Blassgraue und kühle Haut, kalter Schweiß,
  • Zittern,
  • Unruhe, eventuell Verwirrtheit oder Ängstlichkeit,
  • flache schnelle Atmung,
  • Beschleunigung des Herzschlags (Tachykardie),
  • Bewusstseinsstörung bis zur Bewusstlosigkeit.

So weit, so einfach. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Die oben genannten Punkte mögen ausreichen, wenn du aus der Perspektive einer Person schreibst, die den Blutverlust beobachtet, denn alle genannten Symptome sind von außen beobachtbar und messbar. Aber was, wenn du aus der Perspektive einer Figur schreibst, die den Blutverlust selbst erlebt?
Es ist einfach, sich dazu verleiten zu lassen, die oben genannten Symptome zu „verinnerlichen“. Die Figur würde also den Schweiß auf der Haut spüren, das Zittern bemerken, das Herz in der Brust schlagen spüren etc. Denn genau das würde die Figur ja auch wahrnehmen. Und das ist zwar richtig, aber nicht das vollständige Bild.

Blutverlust aus der Perspektive der erlebenden Figur

Die eigene Körperwahrnehmung unterscheidet sich meist deutlich von einer medizinischen Analyse der Körperfunktionen. Der Fokus ist ein ganz anderer. Eine Person, die Blutverlust erlebt, fühlt sich wahrscheinlich schwach und ist verwirrt – wobei man selbst meist nicht merkt, dass man verwirrt ist. Aber so würde die Figur ihre Wahrnehmung nicht beschreiben, weil zwischen „schwach“/“verwirrt“ und der Körperwahrnehmung schon eine Abstraktionsstufe stattgefunden hat.
Die erlebende Figur würde vielleicht stattdessen beschreiben, wie schwierig es ist, sich zu konzentrieren oder die Augen offen zu halten. Da ist eine Dunkelheit am Rande des Blickfeldes, die sich immer weiter ausbreitet. Der ganze Körper ist schwer und kalt. Und dieser Durst. Wo kommt dieser Durst her?

Rein medizinisch kommt der Durst von dem Verlust von Körperflüssigkeit, also dem Blut. Aber das wird in den Symptomen nicht aufgezählt, weil es nicht beobachtbar/messbar ist. Trotzdem wird es ein Schlüsselelement des erlebten Blutverlusts sein.

Beispiel 2: Brille tragen

Für ein etwas weniger dramatisches Beispiel eignet sich das Tragen von Brillen. Denn das Brillentragen scheint nicht, als würde man viel Recherche dafür brauchen. Man hat halt was auf der Nase, das beim Sehen hilft. Das ist relativ selbstverständlich und was für Auswirkungen das auf das alltägliche Leben hat, kann man sich als nicht-brillentragender-Schreiberling auch selbst überlegen. Und diese Überlegungen sind meistens nicht falsch, haben aber meist eine völlig falsche Herangehensweise.

Denn der Fokus von Nicht-Brillentragenden liegt meist darauf, was Brillentragende wegen ihrer Sehschwäche nicht tun können. Aber das ist nicht die Wahrnehmung von Brillentragenden – offensichtlich gibt es abhängig von der Sehschwäche Einiges an Variation in der Wahrnehmung und ich werde hier aus meiner eigenen Erfahrung berichten. Für deine Einschätzung: Meine Sehschwäche liegt bei etwa -6 auf beiden Augen und ich sehe im linken Auge doppelt (nicht durch die Brille korrigiert). Ich merke nicht, was ich nicht kann. Aber ich merke, die Auswirkungen der Brille auf meinen Alltag.

Wie fühlt sich Brillentragen an?

Morgens nach dem Aufwachen geht mein erster Griff immer zur Brille. Das ist keine Entscheidung, über die ich nachdenke, ich brauche sie, um für meinen Alltag zu funktionieren.
Wenn die Brille nicht auf der richtigen Höhe auf der Nase sitzt, dann sehe ich unscharf. Diese Unschärfe ist nicht stark, aber ich merke sie. Wenn die Brille nicht richtig passt – und die Passform ändert sich mit der Zeit, Schrauben werden lockerer, Bügel verbiegen sich etc. – dann habe ich Druckstellen auf Nase, Ohren oder Schläfen. Die können sich entzünden und das kann sehr schmerzhaft werden. Wenn sich die Sehstärke verändert, hat man fast durchgehend Kopf- und Augenschmerzen. Meine Brille ist ständig dreckig, aber das bemerke ich nur, wenn ich die Brille abnehme und dann wieder aufsetze. Und und und.

Ohne Brille

Ich denke gar nicht daran, ohne Brille unterwegs zu sein, denn das ist für mich quasi unmöglich. Ich kann keine Schilder lesen und auch Straßenlaternen würde ich nur im letzten Moment ausweichen können. Es ist fast unmöglich für mich Geschwindigkeiten von z.B. Autos einzuschätzen, denn meine Tiefenwahrnehmung ist ohne Brille nicht existent. Und ich wüsste sowieso (visuell) nicht, wo der Gehweg anfängt oder aufhört. Der Gedanke ohne Brille aus dem Haus zu gehen, ist so absurd für mich, dass ich noch nicht einmal darüber nachdenke.
Trotzdem bin ich ohne Brille nicht hilflos. Mir ist meine Brille einmal beim Badminton-Spielen kaputt gegangen – lange Geschichte -, aber ich wollte weiterspielen, also habe ich es ohne Brille gemacht. Ich konnte den Federball zwar nicht sehen, aber durch die Bewegungen meiner Gegenspieler*innen und das Geräusch beim Treffen des Balls wusste ich trotzdem, wo er landet. Weil ich mich nicht auf meine Augen verlassen kann, gleiche ich das „Fehlende“ durch Erfahrung und andere Sinne aus. Nicht immer mit Erfolg.

Auch in meiner eigenen Wohnung komme ich ohne Brille (theoretisch) klasse klar. Ich weiß, wo alles ist und es warten keine Überraschungen auf mich. Alles ist zwar unscharf, aber es funktioniert. Der Automatismus des Brille-nach-oben-Schiebens bleibt übrigens. Trotzdem bin ich auch in der Wohnung nicht ohne Brille unterwegs, denn wenn ich sie nicht trage, wird mir schwindelig.

Lange Rede kurzer Sinn: Mit Brille werde ich nicht plötzlich zu einer Person ohne Sehschwäche. Meine Sehschwäche bleibt, sie wird nur durch die Brille ausgeglichen.

Äußerliche und innerliche Wahrnehmung

Letztendlich ist das große Problem beim Einbauen von Rechercheergebnissen folgends: In der eigenen Recherche findet man häufig nur äußerliche Beschreibungen eines Sachverhalts, aber Geschichten sind meist aus einer innerlichen Perspektive geschrieben. Das führt zu einer äußerlichen Perspektive in Szenen, die eigentlich innerlich stattfinden.
Diese Diskrepanz ist schwierig zu greifen, weil rein faktisch oft keine Fehler gemacht werden. Die Logik ist richtig, die Beschreibungen korrekt. Es fehlt „nur“ die Facette des Erlebens bzw. die hochspezifischen Wahrnehmungen des Erlebens. Es wird eine Distanz aufgbeaut, die eigentlich nicht existieren sollte und Figuren können sich anfühlen, als wären sie „von sich selbst entfernt“. Aber das Erleben zu recherchieren, ist unglaublich schwierig und kann oft nur durch eigene Erfahrung oder Austausch betroffener Personen stattfinden.

Achte auf die Perspektive deiner Recherche. Aus welcher Sicht ist sie geschrieben? Was unterscheidet eine äußerliche und innerliche Perspektive auf den Sachverhalt? Was kannst du von den Erfahrungen anderer Menschen lernen? Gibt es Erfahrungsberichte? Was würde eine äußere Perspektive auf die Situation ausblenden?

 


Wie bindest du deine Recherche in deine Geschichten ein? Auf was für Probleme bist du gestoßen?

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3 Replies to “Rechercheergebnisse nahtlos in Geschichten einbauen – Äußerliche und innerliche Perspektive”

  1. Charles says:

    Danke, wieder einmal, für deinen klasse Beitrag. Ich habe nur selbst (teils tief im Recherchesumpf) festgestellt, dass authentische Beschreibungen oft fehlen und ich immer ein wenig hilflos dastehe, wie ich eine Szene richtig beschreibe (manches musste dann einfach fallenlassen).
    Gerade im Internet finde ich oftmals „Meinungen“ die nicht als solches kenntlichgemacht sind – schwierig. Fachbücher (oder Seiten) sind dann wieder aus anderen Gründen wenig ergiebig, meist beschreiben sie jede Facette bis ins kleinste Detail, aber genau der Punkt, den ich brauche, fehlt.
    Ein Wiki für Schreibende (wir haben ja meist spezielle Klärungswünsche) fände ich toll.
    Alternativ einfach Forschende anzuschreiben und direkt beim Fach nachzufragen, habe ich mich bisher nicht getraut.

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    1. Sina Bennhardt says:

      Gerne! 🙂

      Ich habe mir auch schon oft eine Wiki für Schreibende gewünscht. Eine Seite, wo Leute Erfahrungsberichte reinschreiben können und man dann nachschlagen kann, aber die Organisation war mir da immer zu einschüchternd^^“
      Forschende anzuschreiben habe ich mich bisher auch noch nie getraut, aber zum Glück habe ich viele Freunde und Bekannte, die sich mit verschiedensten Fachbereichen auskennen. Das hat bisher (noch) immer gereicht.^^

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  2. uberlaufer says:

    Liebe Sina,

    vielen Dank für diesen Beitrag. Tatsächlich habe ich das gleiche Problem. Ich deute an, dass mein Hauptkommissar in meiner Geschichte schizophren ist, aber ich selbst, weiß nicht, wie es sich anfühlt und ich will das auch nicht zu eindeutig machen, weil dann fühlt man nicht mehr mit ihm mit und vielleicht sind die Stimmen ja sogar real, die er hört. #VierteWanddurchbrechen

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