Die Wahl der Gegner – Nuancierte Kampfszenen (2/5)

Von der Frage: Warum fühlen sich Ohrfeigen gemeiner an als Faustschläge? habe ich weitergesponnen: Welche anderen vielleicht unterbewussten „Regeln“ gibt es bei Gewaltszenen noch? Und warum? Was ist in einer Kampfszene überhaupt realistisch? Deswegen habe ich beschlossen ein kleines – naja, aus zwei geplanten Artikeln sind fünf geworden – Cheatsheet zu schreiben. Diesmal geht es um die Wahl der Gegner.

CN: Besprechung von Gewalt ohne explizite Beispiele

Ganz wichtig: Kontext ist alles!

Wie bei jeder Konfliktsituation in einer Geschichte kommt es bei Gewaltdarstellung unglaublich auf den Kontext an. Das möchte ich sehr deutlich betonen. Kontext ist beim Schreiben über Gewalt alles. Die Benutzung einer Waffe kann die Schwäche einer Figur unterstreichen oder ihre Stärke herausheben und das nur, weil der Kontext unterschiedlich ist. Eine Überzahl in einem Kampf kann die Grausamkeit der Figuren deutlich machen oder ein genialer Streich sein, der ihre Intuition und schnelle Denkfähigkeit demonstriert. Es gibt so viele Möglichkeiten, mit faktisch derselben Szene eine unterschiedliche Wahrnehmung der Figuren zu beschwören. Deshalb werde ich auch versuchen, nur die Logik und Denkweise der unterschiedlichen Strategien zu beschreiben und weniger, sie einzuordnen. Trotzdem werde ich an der einen oder anderen Stelle, meine Meinung zu diesen Strategien deutlich machen.
Deswegen nochmal: Kontext ist alles. Nur weil ich eine Situation auf eine bestimmte Art einordne, heißt nicht, dass sie in einem leicht anderen Kontext nicht vollkommen anders wirken könnte.

Die Wahl der Gegner

Um eine Gewaltsituation zu schreiben, benötigst du zu allererst die beteiligten Figuren. Welche Figuren das sind, ergibt sich in der Geschichte meist aus der Szene und dem Kontext, in dem du sie platzierst. Trotzdem solltest du genau darüber nachdenken, welche Figuren du an einer Gewaltsituation beteiligst und was sie für Erfahrungen und Voraussetzungen in den Kampf mitbringen, denn das kann eine Szene von Grund auf verändern.

Außerdem wichtig: Ich werde in diesem (und folgenden) Artikel(n) von einer „überschaubaren“ Anzahl von Beteiligten ausgehen. Der Begriff „überschaubar“ ist hierbei relativ dehnbar und beschreibt in etwa die Anzahl von Figuren, die eine lesende Person in einer Szene namentlich wiedererkennen und plottechnisch verfolgen kann. Übersetzt heißt das etwa zwei oder drei Hauptfiguren und vielleicht fünf Nebenfiguren. Grob. Je nach Schreibstil und Geschichte kann diese Zahl natürlich variieren.
Allerdings geht in meiner Erfahrung bei einer Zahl über zehn Beteiligten in einer Kampfszene der Überblick verloren und es wandelt sich zu einer Schlachtenszene, in der es weniger um die einzelne Person sondern um die Kampfstrategie im Allgemeinen geht. Und um Schlachtenszenen soll es für den Moment nicht gehen.

Noch eine Voraussetzung: Es wird hier um Gewaltsituationen gehen, in denen es das Ziel ist, den Gegner zu verletzen. Kampftrainingszenen sind noch mal eine ganz andere Sache.

Und noch eine letzte Voraussetzung: In meinen Beispielen betrachte ich – außer ich sage explizit etwas anderes – Menschen mit körperlicher Ähnlichkeit. Das ist absichtlich etwas vage formuliert, weil körperliche Ähnlichkeit ein großes Spektrum umfassen kann. Was ich meine, ist, dass sich beispielsweise ein Kind und eine erwachsene Person körperlich meistens so unähnlich sind, dass ein „gerechter“ Kampf niemals möglich ist. Dasselbe kann bei körperlichen oder geistigen Behinderungen, hohem Alter oder (chronischen) Krankheiten zutreffen.

Wie viele Figuren sind beteiligt?

Hier sind besonders zwei Fragen wichtig: Wie viele Figuren sind auf jeder Seite des Konflikts? Und wie viele davon werden/wollen aktiv mitkämpfen bzw. sind „nur“ in einer beobachtenden Position?

Eine Grundregel: Die Seite mit den meisten aktiven Beteiligten ist fast immer im Vorteil. Man sollte es nicht meinen, aber schon eine einzige Person mehr hat ungemeine Auswirkungen. Sagen wir, es kämpfen fünf gegen sechs. Das heißt eine Person auf der Fünfer-Seite muss sich gegen zwei Leute gleichzeitig behaupten, was nicht für länger als eine halbe Minute funktionieren wird und schon das ist sehr großzügig.
Das heißt, die Fünfer-Seite ist auf einmal nur noch eine Vierer-Seite. Die Überzahl wächst zugunsten der größeren Seite je länger der Kampf andauert und die kleinere Seite wird schon nach kurzer Zeit überrannt.

Im Grunde kann nur das Benutzen von Waffen eine Überzahl ausgleichen, aber dazu im nächsten Artikel mehr.

Bei einem Kampf mit einer ausgeglichenen Anzahl von Personen – egal ob eins gegen eins oder fünf gegen fünf – hängt der Ausgang meist von der Erfahrung und/oder der körperlichen Verfassung der Figuren ab.

Wie erfahren sind die Figuren? Und womit haben sie Erfahrung?

Personen mit mehr Erfahrung werden sich im Allgemeinen besser schlagen als Unerfahrene – pun somewhat intended. Dabei ist es aber wichtig, sich zu überlegen, worin genau die Figuren denn nun Erfahrung haben, denn nicht alles Gelernte lässt sich auf eine echte Kampfsituation übertragen.
Nehmen wir mich als Beispiel: Durch meine Kampfsporterfahrung würde ich mich in einer Kampfsituation wahrscheinlich besser anstellen als der durchschnittliche Mensch ohne Kampfsporterfahrung. Gleichzeitig könnte mich mein Kampfsportwissen behindern, weil ich z.B. hauptsächlich mit Boxhandschuhen gekämpft habe und mir deshalb in einem echten Kampf ohne Handschuhe schnell die Hände brechen könnte.

Grundregel: Kampferfahrene Figuren haben eine schnelle räumliche Auffassungsgabe und können eine Situation instinktiv einschätzen. Sie können sich schneller auf eine verändernde Situation einstellen und ihre Angriffe derart anpassen, dass sie den Gegner in eine Position bringen, in der sie selbst im Vorteil sind. Außerdem können sie oft besser „einstecken“ bzw. besser auf erfolgreiche Angriffe des Gegners reagieren.

Meistens.

Wie sich Alter, Gewicht, Größe und Ausstrahlung auf einen Kampf auswirken

Das ideale Alter: Die meisten Menschen erreichen ihre beste körperliche Verfassung mit Anfang/Mitte zwanzig. Das ist der Zeitpunkt an dem Reaktionsgeschwindigkeit und Kraft am höchsten sind und gleichzeitig schon ein großer Erfahrungsschatz gebaut sein kann.

Gewicht

Das Gewicht ist ein Balanceakt. Ein höheres Gewicht bedeutet mehr Wumms beim zuschlagen, aber zu viel Gewicht und es macht langsamer/ermüdet den Körper schneller – egal ob das Gewicht von Muskeln oder Fett kommt. Aber ein niedriges Gewicht bedeutet, egal wie fest man zuschlägt, es wird nicht den gewünschten Effekt haben. Außerdem ist das „Ideal“-Kampfgewicht abhängig von der eigenen Kampfstrategie. Für das Ringen, Tacklen und Werfen ist oft ein höheres Eigengewicht von Vorteil, aber für einen stehenden Kampf (z.B. Boxkampf) ist es besser ein wenig leichter zu sein.

Größe

Auch die eigene Körpergröße hat große (haha) Auswirkungen auf den Kampf. Generell ist es von Vorteil größer zu sein als sein Gegner, denn das bedeutet, dass man eine größere Reichweite hat und man bekommt die Gelegenheit den ersten Schlag zu landen. Außerdem ist es für die kleinere Person erstaunlich kräftezehrend nach oben zu schlagen.
Trotzdem hat nur ein signifikanter Größenunterschied auch eine spürbare Auswirkung auf einen Kampf. „Signifikanter Größenunterschied“ ist hierbei ein leicht dehnbarer Begriff und bewegt sich in etwa einer Köpfhöhe+ Unterschied.

Wichtig zu bedenken: Größe und Gewicht bewegen sich oft Hand in Hand. Das heißt größere Gegner sind oftmals auch schwerer als kleinere. Das heißt mit einer größeren Reichweite und mehr Kraft hinter jedem Schlag sind sie oft deutlich im Vorteil.

Trotzdem wichtig zu bedenken

Aber selbst ein ideales Alter, Gewicht, etc. sind kein Muss, um aus einer Kampfsituation siegreich hervorzugehen. Eine langsamere Reaktionsgeschwindigkeit lässt sich oft mit Erfahrung ausgleichen, ein niedrigeres Gewicht mit höherer Agilität. Nichts ist in Stein gemeißelt und letzten Endes ist es am häufigsten die Erfahrung, die zum Sieg führt, denn es ist egal wie stark der Gegner zuschlägt, wenn man niemals getroffen wird.

Ausstrahlung

Ich gebe zu, als ich selbst noch keine Erfahrung mit Kampfsport hatte, klang es für mich sehr esoterisch, dass die Ausstrahlung einer Person Auswirkungen auf einen Kampf haben könnte. Aber es stimmt. Es ist schwierig zu erklären, weil das Eines dieser Dinge ist, die man erlebt haben muss, aber ich werde dennoch versuchen es zu erklären:
Man braucht eine gewisse mentale Einstellung, um einen Menschen verletzen zu wollen. Diese „Absicht“ ist physisch spürbar. Wenn man gegen diese Intensität nicht gegenhalten kann (oder sie nicht aufbringen kann), hat man schon verloren, bevor der Kampf begonnen hat. Es ist eine Mischung aus Entschlossenheit, ungebrochenem Fokus auf das Ziel und und dem Willen zu verletzen. Aber – und das ist ganz wichtig – dort ist keine Wut, denn Wut ist unkontrolliert.

Das Spannende daran ist: Wenn man es übt, kann man diese Intensität von einer Sekunde zur anderen an- und ausschalten. Im Techniktraining hat niemand diese Intensität und auch beim Sparring – beim Übungskampf – ist sie nicht unbedingt vorhanden. Aber wenn man die „Absicht“ anschaltet, dann verändert sich die gesamte Energie im (Übungs)Kampf.

Ein Wort zu Glück und der Wichtigkeit des ersten Treffers

In einem ernsthaften waffenlosen Kampf zwischen zwei Personen ist der Ausgang meist schon mit dem ersten (richtigen) Treffer entschieden. Denn ein guter Treffer wird den Gegner für einen winzigen Augenblick handlungsunfähig machen, weil sich der Körper von dem physischen Schock erholen muss. Dieser winzige Augenblick lässt sich ausnutzen, einen weiteren Treffer zu landen. Das Prinzip ist dasselbe wie mit einer Überzahl an Gegnern: Ein Treffer begünstigt den nächsten Treffer, begünstigt den nächsten Treffer, begünstigt den nächsten Treffer, bis der Gegner besiegt ist.
Das heißt, dass – wenn ein erster Treffer glücklich landet – theoretisch sogar unerfahrene Kämpfende den Kampf sich entscheiden können.

Allerdings haben erfahrene Kämpfende den Vorteil, dass sie den physischen Schock eines Angriffs gewöhnt sind und möglicherweise sogar gelernt haben, gar nicht mehr darauf zu reagieren. Ich erinnere mich beispielsweise an mein Thaiboxtraining: Dort haben wir explizit trainiert einen Schritt nach vorne zu machen, nachdem wir einen Treffer eingesteckt haben. Das hat zum einen den Vorteil die Distanz zum Gegner zu verändern und damit einen nächsten Treffer schwieriger zu machen, hat aber auch gleichzeitig unglaubliche psychische Auswirkungen. Man selbst wird durch einen Treffer aggressiver – im Sinne von: nach vorne gehend bzw. den Gegner zurücktreibend. Und unterschätze nicht, wie einschüchternd es ist, wenn ein Gegner nach einem Schlag – egal wie hart er war – immer weiter auf einen zukommt.


Im nächsten Artikel wird es um den Gebrauch (oder Nicht-Gebrauch) von Waffen gehen.

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