Warum sind Ohrfeigen gemeiner als Faustschläge? – Nuancierte Kampfszenen (1/2)

Ich bin neulich vom Einkaufen nach Hause gegangen und habe über Kampfszenen in Geschichten nachgedacht. Im Speziellen kam mir die Frage, warum sich Ohrfeigen beim Lesen so viel gemeiner und respektloser anfühlen als Faustschläge. Ich gebe zu, dass das eine sehr spezifische und eher ungewöhnliche Fragestellung für einen Spaziergang ist. Aber man muss sich ja irgendwie beschäftigen. 😉

CN: Besprechung von Gewalt (an erlebten Beispielen im Kontext von Kampfsport und Auseinandersetzungen unter Kindern), Beschreibungen von Schmerzen und Verletzungen

Von Ohrfeigen, Faustschlägen, Macht und Ehrlichkeit

Warum fühlt es sich so an als wäre eine Ohrfeige so viel abwertender als ein Faustschlag? An dieser Frage habe ich eine Weile geknabbert. Denn immerhin richtet ein Faustschlag mehr Schaden an. Ein Faustschlag hat die Absicht physisch zu verletzen, den Gegner handlungsunfähig zu machen und – wenn man es weit genug treibt – vielleicht sogar zu töten. Wenn das nicht respektlos ist, was dann? Eine Ohrfeige hingegen knallt nur einmal und tut weh, aber das war es auch schon. Wieso macht das (beim Lesen) einen so großen Unterschied?

Der Unterschied zwischen „weh tun“ und „verletzen“

Sowohl Ohrfeigen als auch Faustschläge habe ich am eigenen Leib erlebt. Letztere zum Glück nur im Kontext von Kampfsport (Thaiboxen) und erstere – ebenfalls zum Glück – nur bei Streitigkeiten mit anderen Kindern als ich noch im Grundschulalter war, aber ich erinnere mich trotzdem gut daran. Es mag vielleicht überraschen, aber eine Ohrfeige tut deutlich mehr weh als ein Faustschlag. Und das liegt nicht daran, dass ich im Kampfsport keine harten Schläge abbekommen habe. Ich habe reichlich Erfahrung mit blutigen Nasen, blauen Augen und Leuten, die ihre Kraft falsch eingeschätzt haben, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen.

Hinweis: Generell gibt es sehr viele Faktoren, die den Blick auf eine gewaltsame Situation verändern können. Deswegen betrachte ich hier „nur“ eine Situation zwischen zwei Menschen, die sich in Größe, Gewicht und Statur ähneln. Die Faktoren, die die Betrachtung einer gewaltsamen Situation verändern können, beschreibe ich im nächsten Artikel genauer.

Ohrfeigen tun weh.

Eine Ohrfeige betrifft fast eine ganze Hälfte des Gesichts. Dort gibt es viele, viele oberflächliche Nerven, die gleichzeitig zu feuern beginnen. Es brennt unglaublich und treibt einem unwillkürlich die Tränen in die Augen. Dazu kommt der laute Knall, der allein in seiner Lautstärke sehr erschreckend ist, vor allem so nah an dem eigenen Ohr, und in seinem traumatisierenden Effekt nicht unterschätzt werden darf. Nachdem das akute Brennen des Schlags nach kaum einer Sekunde verklungen ist, steigt dann die Hitze ins Gesicht (von dem Blut das automatisch zu der verletzten Stelle schießt) und es beginnt ein prickelnder Hitzeschmerz, der für einige Sekunden stärker wird und dann wieder abflacht, bis er nach etwa 30 Sekunden ganz verschwunden ist.

Faustschläge verletzen.

Ein Faustschlag tut ebenfalls weh, aber es fehlt die „Spitze“ einer Ohrfeige. Im Vergleich zu einer Ohrfeige „schiebt“ ein Faustschlag eher als zu peitschen. Dieses Schieben ist auch sehr schmerzhaft, aber der Schmerz bleibt nicht oberflächlich, was ihn paradoxerweise weniger schlimm macht. Denn je tiefer man in den Körper geht und sich von der Haut „entfernt“ desto weniger Nerven gibt es. (Sehr generalisierte Aussage.) Das heißt die kleine Trefferfläche an der Haut tut zwar ebenfalls weh, aber die meiste Energie des Faustschlags geht in das „Schieben“, also das Bewegen des Kopfes des Geschlagenen, das zwar wahnsinnig desorientierend ist und für einen Augenblick handlungsunfähig machen kann, aber kaum wehtut (solange man sich nicht den Hals verletzt). Der Schmerz der bleibt, sitzt wortwörtlich tiefer, ist aber dumpf, manchmal sogar eher betäubt als schmerzhaft. Es ist der Schmerz einer tieferen Verletzung, eine Warnung des Körpers, dass vielleicht wirklich etwas kaputt gegangen ist.

Machtgefälle und Ehrlichkeit

Ein Faustschlag ist ehrlich in seiner Absicht: Er soll Schaden zufügen. Da gibt es kein Wenn und Aber. Es ist fast egal, wie sehr der Faustschlag weh tut, denn solange er Schaden anrichtet hat er seinen gewünschten Zweck getan.
Eine Ohrfeige hingegen soll weh tun und schocken, und tut das mit minimalem Kraftaufwand des Schlagenden. Eine Ohrfeige sagt: „Schau wie wenig Kraft ich brauche, um dir richtig fies weh zu tun.“ Ein möglicher Schaden, der entsteht, ist zweitrangig. Sie ist eine Demonstration von Macht und ebenfalls ein Zeichen von Selbstsicherheit/Arroganz, denn wenn die geschlagene Person eine ernsthafte Bedrohung darstellen würde, würde der Schlagende keine Ohrfeige wählen.

Eine Ohrfeige ist also eine wortwörtlich unnötig schmerzhafte Demonstration des Machtgefälles zwischen zwei Figuren. (Ob das Machtgefälle durch die Ohrfeigen erreicht werden soll oder unterstrichen wird, ist einerlei.) Kein Wunder, dass sie sich herabwertend anfühlt.

Was tun mit dieser Information?

Jetzt habe ich viel über die Mechaniken, Schmerzen und Implikationen von Faustschlägen und Ohrfeigen geschrieben, aber was kannst du in deinen Geschichten damit anfangen? Eigentlich wäre meine Ausgangsfrage mit dem letzten Absatz beantwortet geworden, aber dass ich so detailliert und ausführlich geschrieben habe, war Absicht. Das hat zwei Gründe.

  1. Erfahrungssammlung
    Nicht alle Menschen haben Kampfsporterfahrung und (zum Glück!) haben viele Menschen auch keine Erfahrungen mit Ohrfeigen oder Faustschlägen. Das kann es für Autor*innen schwierig machen, sie „richtig“ zu beschreiben. Oft bleibt es bei generischen Beschreibungen, die man schon hundert mal gelesen hat. Das ist zwar nicht unbedingt schlecht, aber je mehr Erfahrungen man als Autor*in sammeln kann, desto besser (auch wenn diese Erfahrungen aus zweiter Hand sind).
  2. Meinen Gedankengang in möglichst viel Detail darstellen.
    Eine der häufigsten Fragen, die ich zu meinen Artikeln bekomme, ist, wie ich von einer Fragestellung – zu der ich selbst keine Antwort habe – zu einer für mich befriedigenden Lösung komme. Indem ich meine Gedanken und Schlussfolgerungen möglichst detalliert aufschreibe, hoffe ich, ein praktisches Beispiel für diese Frage zu liefern. Denn so wie oben dargestellt (wenn auch mit ein bisschen mehr „hmms“ und „mhmms“) war mein Gedankengang. Vielleicht kannst du etwas für dich daraus gewinnen.

Gewaltdarstellung kann den Charakter deiner Figuren grundsätzlich verändern, allein durch die Art der Gewalt, die du in der Situation wählst. Um also die „richtige“ Art der Gewalt und Situation zu wählen, ist es hilfreich, wenn du verstehst, welche Reaktionen unterschiedliche Gewaltsituationen bei deinen Lesenden auslösen.


Beim nächsten Mal werde ich auf die Wahl der Beteiligten in einer Kampfszene eingehen.

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One Reply to “Warum sind Ohrfeigen gemeiner als Faustschläge? – Nuancierte Kampfszenen (1/2)”

  1. Charles says:

    Vielen Dank für diesen Artikel. Bisher hatte ich das immer eher unbewusst im Kopf und du hast das wunderbar klar gemacht.

    Antworten

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