Wie viel Realität kann eine Geschichte vertragen?

Die Frage nach dem Realismus bzw. der Realität in Geschichten stellt sich vielen Schreibenden immer wieder. Denn eine Geschichte sollte realistisch sein, damit sich die Lesenden darin einfinden können, aber zu realitätsnah – z.B. in Dialogen oder alltäglichen/für die Geschichte unnötige Situationen – und es wird langweilig. Jojo (Blog: Das Überläuferli) hat mir die Frage gestellt, was überhaupt einen realistischen Eindruck auf die Lesenden macht. Wie schafft man es, eine gute Balance zwischen Fiktion und Realität zu treffen, die zu einer stimmigen Geschichte führt? Das möchte ich hier erkunden.

Geschichten sind niemals realistisch

Außer man hat es mit einer sehr faktenbedachten Biographie zu tun, sind alle Geschichten „unrealistisch“. Soll heißen, sie weichen in gewissen Aspekten z.T. deutlich von der erlebten Realität der echten Welt ab. Das kann an der Struktur der Geschichte liegen oder auch an „kleinen“ Sachen wie die Unterschlagung von Pausen und „öhms“/“ähs“ in Dialogen oder dem Überspringen von Toilettengängen.
Realistisch ist so subjektiv und facettenreich, dass ich es für schwierig halte, eine Geschichte überhaupt danach zu bewerten. Trotzdem möchte ich hier versuchen, ein paar Denkanstöße zu geben wie das Gefühl von einer (nicht) realistischen Geschichte entsteht. Beginnen wir mit einem Begriff, den du kennen(lernen) solltest:

Suspension of Disbelief

Die Suspension of Disbelief, zu Deutsch: „Die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ wurde erstmalig 1817 von dem Dichter und Philosophen Samuel Taylor Coleridge* beschrieben. Sie beschreibt, den Willen der Lesenden über die fantastischen Vorgaben wie eben Magie oder fantastische Wesen einer Geschichte hinwegzusehen, im Austausch gegen gelungene Unterhaltung.
Und da haben wir schon einen wichtigen Punkt erreicht. „Im Austausch gegen gelungene Unterhaltung“.

Vielleicht ist es dir auch bei dir schon aufgefallen, dass du eher dazu bereit warst, auch den Realismus bzw. die fantastischen Elemente einer Geschichte in Frage zu stellen, wenn du die Geschichte nicht mochtest. Ich weiß, dass es für mich stimmt. Ich werde ungleich penibler in meiner Kritik, wenn ich nicht unterhalten werde. Aber liegt es daran, dass Geschichten mit unausgereifterem Handwerk schlechter unterhalten oder weil sie wegen ihres unausgereifteren Handwerks einfach leichter zu kritisieren sind? Das ist eine Frage, die sich nicht allgemein beantworten lässt.

* Samuel Taylor Coleridge hat übrigens mein absolutes Lieblingsgedicht geschrieben. Es heißt „The Rime of the Ancient Mariner“. Ich kann nur empfehlen, es zu lesen. Es ist genial. Aber weiter im Text.

Was ist überhaupt „unrealistisch“?

Du kennst bestimmt Geschichten, die (für dich) die Realität gebrochen haben. Aber warum brechen manche Aspekte einer Geschichte die Realität? Warum können in einer Welt fantastische Wesen und Magie existieren, ohne dass die Lesenden mit der Wimper zucken, aber das Verhalten einer Figur ist auf einmal „unrealistisch“? Was genau bedeutet es, wenn jemand sagt, eine Geschichte sei „unrealistisch“?

„Das ist unrealistisch“ = „Das Geschriebene weicht unerklärt von dem von mir erwarteten Handlungsablauf ab.“

Das kann zwei Gründe haben:

1. Logikfehler

Logikfehler sind eine relativ objektiv messbare Quelle von Unrealismus und deswegen vergleichsweise einfach zu korrigieren. Dein Buch spielt in Dresden, aber man kann den Eiffelturm sehen? Da ist – solange es hier nicht um Parallelwelten etc. geht – der Fehler ziemlich offensichtlich. Aber ganz so einfach muss es nicht sein. Denn sobald es nicht um einfach verifizierbare Dinge wie den Standort eines Bauwerks geht, wird auch die Einschätzung schwieriger.

Ist es realistisch, dass sich in der ausgedachten Stadt X, Slums gebildet haben?
Ist es realistisch, dass eine Figur einer anderen Figur vergibt?
Wäre es realistisch, wenn eine Figur hier Worldbuilding erklärt? Oder kann man für den Flow der Geschichte darüber hinwegsehen?

Die Antworten hängen hier viel mit den Erfahrungen und Erwartungen der Schreibenden und Lesenden zusammen. Ein einfaches Richtig und Falsch gibt es nicht.

2. missglückte Kommunikation zwischen Schreibendem und Lesenden

Das Gefühl von Unrealismus kann aber auch auftreten, wenn sich die Schreibenden und Lesenden nicht verstehen. Zum Beispiel kann ein Mensch, der niemals Depressionen erfahren hat, die Handlungsweise einer depressiven Figur unrealistisch finden, einfach weil sie nicht dem gewohnten/erwarteten Gang folgt. Unrealismus aus Unwissenheit sozusagen. Hier liegt die Schuld mMn bei den Schreibenden, denn es ist ihre Aufgabe, ihre Welt und Figuren nachvollziehbar und verständlich zu vermitteln.
Aber das sagt sich so leicht. Denn wie viel Erklärung nötig ist, um verstanden zu werden, hängt wieder von den Erfahrungen und Erwartungen der Lesenden ab. Und diese Erfahrungen und Erwartungen können stark voneinander abweichen. Also gibt es auch hier kein eindeutiges Richtig und Falsch.

Eine eigene Realität schaffen

In meiner Erfahrung geht es meistens schief, wenn man versucht ein „unverfälschtes“ Bild der Realität einzufangen, denn jede Realität ist subjektiv und geprägt von unseren Erfahrungen, Erinnerungen und Erwartungen. Es ist – für mich zumindest – der Reiz von Geschichten, dass sie einen Ausflug in eine ähnliche aber andere Realität versprechen. Welten, in denen es Liebe auf den ersten Blick gibt, in denen Teenager Regierungen stürzen können, das Gute gewinnt und ganz normale Menschen gegen Drachen kämpfen.
Anstatt sich der gesamten Realität zu stellen, fangen die meisten Geschichten nur einzelne Aspekte der Realität ein, die einfach zu verstehen und zu erkennen sind. Aspekte wie Liebe, Freundschaft, Verrat, Glück und Unglück. Alles andere ist austauschbar.

Mir ist bewusst, dass das nicht wirklich ein hilfreicher Tipp ist, um „realistischere“ Geschichten zu schreiben, aber die Realität in Geschichten ist so fließend, dass keine allgemeingültigere Antwort möglich ist.

Fazit: Realismus ist ein (subjektives) Spektrum

Um die Ausgangsfrage dieses Artikels aufzugreifen: Wie viel Realität kann eine Geschichte vertragen? Die Antwort ist so einfach wie unhilfreich. Es kommt darauf an. Die Erwartungen der Lesenden, die fantastischen Elemente der Geschichte, Genrekonventionen und schließlich die erlebte Realität müssen gegeneinander aufgewogen werden und am Ende ein schlüssiges Gesamtbild erzeugen.
Dabei ist es wichtiger, dass in der Geschichte etablierte Regeln eingehalten werden, als dass man völlig der Realität entspricht.

 


Wie stehst du zum Realismus in Geschichten? Welche Aspekte der Realität unterschlägst du und von welchen würdest du gerne mehr lesen?

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7 Replies to “Wie viel Realität kann eine Geschichte vertragen?”

  1. Lew Marschall says:

    Hi Sina, danke für deinen wichtigen Post.
    Ein Punkt, der in so gut wie allen Geschichten unrealistisch dargestellt wird, ist Kausalität.
    Leser erwarten, dass Ereignisse in Romanen kausal erfolgen. Der Diebstahl der Haarspange, führte dazu, dass Rapunzels Haare sich im Spinnrad verfingen. Deswegen brach die Versorgung der Näher zusammen weswegen der Prinz nur noch kaputte Hosen trug.

    Aber die Realität ist häufig nicht kausal, sondern Ereignisse korrelieren. Das wird in vielen Diskussion dieser Zeit gerne missachtet.

    Warum? Weil es uns Romane und Filme vormachen. Interessanterweise lieben wir aber die kausalen Zusammenhänge. Wenn die in einer Geschichte fehlen, werden Leser sagen: das Buch ist unlogisch.

    Das widerspricht aber der Realität, die ja wie gesagt meistens nicht kausal ist.

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    1. Sina Bennhardt says:

      Ich stimme dir absolut zu, dass die Realität sehr oft nicht kausal zusammenhängt und es viel mehr Zufälle gibt, als wir wahrscheinlich zugeben würden.

      Trotzdem finde ich es sinnvoll, dass in Geschichten zumindest die wichtigsten Ereignisse kausal zusammenhängen:
      Kausalität ist berechenbar und folgt einfach verständlichen Regeln (wenn das, dann das). Damit haben die Lesenden die Chance, die Geschichte vorherzusehen bzw sie können einfach und verständlich der Handlungskette folgen. Dinge, die durch „Zufall“ oder „Korrelation“ entstehen, können sich vom Schreibenden erzwungen anfühlen und das beschädigt das Vertrauen zum Schreibenden und die Integrität der Geschichte.
      (Denn es macht – meistens – keinen Spaß, eine Geschichte zu lesen, in der alles passieren kann, einfach nur weil der Schreibende es will)
      Kausalität ist das Sicherheitsnetz für die Lesenden, das ihnen versichert, dass der Schreibende sie nicht „betrügt“. 🙂

      Aber auch dieses Sicherheitsnetz ist nicht immer notwendig, wenn der Schreibende das nötige Vertrauen zu den Lesenden aufgebaut hat!

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  2. Charles says:

    Ich schreibe Mal aus meiner Sicht (Fantasy) aber das gilt auch für alle anderen Genres (nur nicht ganz so offensichtlich): eine Katze kann sprechen und denken wie ein Mensch? Lesende: klar, warum nicht?
    Es gibt Wörter der Macht mit denen die Wirklichkeit verändert werden kann? Lesende: nur her damit.
    Die ganze Welt ist durch eine kosmische Katastrophe zerstört und die Göttin xy hält die Fragmente mit ihrer Kraft in der Schwebe und ein Antagonist droht das fragile Gleichgewicht zu zerstören? Lesende: erzähl mir mehr, lechz.
    Wir Schreibenden stellen Regeln auf, müssen uns aber auch an ihnen halten.
    Wenn die Katze auf einmal fliegen kann … Merkwürdig.
    Wenn alle die Wörter der Macht sprechen müssen, aber es in einer Szene reicht, wenn der geknebelte Held sie nur denkt? Bruch der Logik.
    Wenn sich auf einmal heraus stellt, dass die Felsen alle ihre eigene kleinen Atmosphären haben und zwischen ihnen nur luftleerer Raum ist, können sie Bewohner nicht mit Flügeln zur nächsten Insel übersetzen, denn sonst: Logikbruch.
    Fantasy schön und gut, aber auch hier müssen Regeln gelten. Es darf Wasser geben, das aufwärts fließt, doch es muss in sich logisch sein.

    Und, ach ja: Glück. Wenn spannende, katastrophale oder was auch immer für Situationen nur aufgelöst werden, weil, ach so ein Glück aber auch, die seit Äonen gesuchte Götterwaffe genau hier unter dem Blätterhaufen liegt und darauf wartet gegen den Dämonenkönig geschwungen zu werden … Ja, ne … Nicht wirklich.

    Im realen Leben kann eine vollkommen überschuldete Person im richtig Moment den Jackpot gewinnen und alle Probleme lösen sich in Luft auf und Happy End … In einer Geschichte nimmt es und keiner ab.

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    1. Sina Bennhardt says:

      Ich sage beim Schreiben auch immer: Unrealistisches (wie Magie oder sprechende Katzen) ist glaubwürdiger als Unwahrscheinliches. 😀

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  3. jojo says:

    Spannender Artikel. Besonders die Unterscheidung in Logikfehler missglückte Kommunikation zwischen Schreibendem und Lesenden hatte mir gefallen.
    Ich hätte mir allerdings mehr Beispiele gewünscht für Unrealismus, den wir gern bereit sind hinzunehmen wie z.b. weglassen von Essen und Toilettengänge der Figuren.

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    1. Sina Bennhardt says:

      Danke!

      Zu weiteren Beispielen: Das ist immer ein bisschen schwierig zu verallgemeinern, weil sich von Genre zu Genre stark unterscheiden kann, was wir für Unrealismus akzeptieren und was nicht. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass allgemein verständliche, wiederkehrende und (für die Geschichte) uninteressante Aktionen oft einfach weggelassen werden können. Für ein paar kleine Beispiele: Explizite Begrüßungen und Verabschiedungen, Smalltalk, An- und Abreisen zu Szenen, Kleidung wechseln, Hausarbeiten und wie du gesagt hast z.B. Essen und Toilettengänge.
      (Natürlich lässt sich für jedes der hier aufgezählten Beispiele auch ein Grund finden, warum man es explizit erwähnen möchte. Es hängt eben alles von der Situation ab.)

      Auf der anderen Seite gibt es auch Dinge, die wir akzeptieren, wenn sie in Geschichten passieren, die sich in der „normalen“ Welt komisch anfühlen würden. Kleine Beispiele dafür: schnellere Akzeptanz von ungewöhnlichen/unmöglichen Situationen (besonders in der Fantasy), eine oft deutlich höhere Gewaltbereitschaft der Figuren, eine „stromlinienförmige“ Sprechsprache bzw. Sprechsprache, die sich anhört, wie geschrieben oder auch einfach die Menge an außergewöhnlichen Situationen in einem (relativ) kurzen Zeitraum.

      Aber auch hier sind die Dinge, die wir akzeptieren genreabhängig und man merkt wahrscheinlich an meinen Beispielen sehr gut, dass ich mich am Meisten in der Fantasy bewege^^“

      Hilft das ein bisschen mehr für Beispiele? Oder hast du ein bestimmtes Genre zu dem du dir Beispiele wünschst im Kopf?

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      1. jojo says:

        Ja, der Artikel hat mir schon etwas geholfen. Besonders interessiert bin ich allerdings am Genre Krimi, weil ich das schreibe. Dort sterben eben wenig Menschen, weil ich es realistisch halten möchte und die Frage ist, wie viel Realismus verträgt der Leser, damit er sich nicht abwendet? Also die Toilettengänge sind auch nicht drin, aber sonst bin ich sehr bemüht, dass alles echt wirkt.

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