In meinem eigenen Schreiben fällt mir immer sehr genau auf, was ich gerne schreibe und was nicht. Ich liebe Dialoge, ich unterschlage Action, ich mag Geheimnisse und Mysterien, ich vergesse Beschreibungen. Und eine der schwierigsten Dinge für mich sind Zeitsprünge und Zeitraffer. Über die technische und inhaltliche Herangehensweise habe ich bereits einen Artikel geschrieben – Wie schreibst du Zeitsprünge in deinen Geschichten? – aber die Umsetzung fällt mir immer noch nicht leicht.
Warum ein Beispiel aus Shadow and Bone?
Es ist noch nicht so lange her, dass ich Shadow and Bone gelesen habe, doch besonders ein Aspekt ist mir von der Geschichte im Gedächtnis geblieben. Leigh Bardugo schreibt wunderbare Zeitsprünge und Zeitraffer. Ich gebe zu, dass es ein bisschen ungewöhnlich ist, das überhaupt zu bemerken oder zu beachten, aber ich habe die Zeitsprünge und Zeitraffer in den Büchern geliebt und deswegen möchte ich hier einen von ihnen analysieren und schauen, ob ich etwas daraus lernen kann.
Ich werde Kapitel 12 (Seiten 174/175) aus dem Buch Shadow and Bone näher betrachten, deswegen eine sehr leichte Spoilerwarnung. Allerdings werde ich nicht auf die inhaltlichen Entwicklungen der Szene(n) eingehen. Das bedeutet, dass du die Geschichte nicht zu kennen brauchst, um dich in dieser Analyse zurechtzufinden. Und noch ein letzter Punkt: Ich habe das Buch auf Englisch gelesen, deswegen werden die Zitate auch hier auf Englisch sein. Aber das sollte nichts an der Analyse verändern.
Zeitsprünge und Zeitraffer von Leigh Bardugo
Der Zeitsprung, den wir betrachten, findet über drei Paragraphe hinweg statt. Jeder dieser Paragraphen hat eine spezifische und aufeinander aufbauende Rolle, die den Zeitsprung zu einem verständlichen und abgerundeten Erlebnis für den Leser macht.
Paragraph 1: Äußerliche Einordnung
Fall turned to winter, and cold winds stripped the branches in the palace gardens bare. Our table was still laden with fresh fruit and flowers furnished from the Grisha hothouses, where they made their own weather. But even juicy plums and purple grapes did little to improve my appetite.
Das erste, was Leigh Bardugo bei dem Zeitsprung tut, ist, die neue Zeit äußerlich einzuordnen. Sie benennt explizit, dass Zeit verstrichen ist – „Fall turned to winter […]“ – und verstärkt die Aussage mit einer kleinen Beschreibung, die den Lesenden gleichzeitig an den Ort erinnert, an dem er sich befindet – „[…] and cold winds stripped the branches in the palace gardens bare“.
Im zweiten Satz passiert ein bisschen Worldbuilding, das noch einmal zusätzlich daran erinnert, das jetzt Winter ist. Das geschieht hier über einen Kontrast: Obwohl Winter ist, gibt es immer noch frische Früchte und Blumen. Erklärt wird es mit den „hothouses“, die offensichtlich so etwas wie Wintergärten bzw. Gewächshäuser sein sollen. Weil der Lesende die „hothouses“ damit logisch einordnen kann und auch ungefähr weiß wie sie funktionieren, braucht es hier keine weitere Erklärung.
Der dritte Satz ist bereits eine Überleitung zu dem nächsten Paragraphen und damit dem nächsten „Thema“ des Zeitsprunges: Die emotionale Lage der Protagnistin. Abgesehen davon finde ich die explizite Wahl der Adjektive interessant. Die Pflaumen hätten nicht „saftig“ sein müssen und die Trauben nicht „lila“, aber sie sind es dennoch. Zum einen zeigt das dem Leser, dass die Gewächshäuser tatsächlich gut funktionieren und zum anderen betont es noch einmal deutlich, dass die Protagonistin trotz des luxoriösen Essens keinen Appetit zeigt.
Paragraph 2: Emotionale Einordnung
Somehow I’d thought that my conversation with the Darkling might change something in me. I wanted to believe the things he’d said, and standing by the lakeshore, I almost had. But nothing changed. I still couldn’t summon without Baghra’s help. I still wasn’t truly a Grisha.
Dieser Paragraph beantwortet die Frage, was sich bei der Protagonistin emotional verändert hat bzw. was sie in der vegangenen Zeit thematisch beschäftigt hat. Dabei bekommt jeder aufeinanderfolgende Satz eine stärkere Ausdrucksform: Zuerst ist es eine Möglichkeit – „might change“ – dann ein Bestreben – „wanted to believe“ – dann Realität – „nothing changed“. In drei Sätzen hat Leigh Bardugo die emotionale Entwicklung der Protagonistin zusammengefasst und es quasi als Mini-Geschichte mit 3-Akt-Struktur dargestellt.
Die zwei nachfolgenden Sätze dienen zur Erklärung, wo sich die Protagonistin mit ihrer Ausbildung befindet, aber da sich auch hier nichts verändert hat, dienen die beiden Sätze zusätzlich zur Verstärkung der zuletzt dargestellten Realität und Emotionalität: „But nothing changed.“
Paragraph 3: Umgang mit Emotionen
All the same, I felt a bit less miserable about it. The Darkling had asked me to trust him, and if he believed that the stag was the answer, then all I could do was hope he was right. I still avoided practicing with the other Summoners, but I let Marie and Nadia drag me to the banya a couple of times and to one of the ballets at the Grand Palace. I even let Genya put a little color in my cheeks.
Zuerst erfährt der Lesende, wie die Protagonistin zu den Emotionen aus dem Paragraphen davor steht: „[…] I felt a bit less miserable about it.“ und „[…] all I could do was hope he was right“. Resignation steht an der Tagesordnung.
Dann beginnt die langsame Überleitung in das neue Jetzt. Dafür beschreibt Leigh Bardugo (sehr knapp) kurze Ereignisse, die stattgefunden haben, wie der Besuch des Ballets oder das Schminken lassen. Trotzdem ist der Fokus noch auf der Resignation, die die Protagonistin fühlt, und dem Unwillen, den sie dieser Lebensweise entgegenbringt.
Die Überleitung in das neue Jetzt
My new attitude infuriated Baghra.
Es braucht nur diesen einen Satz und schon sind wir wieder mitten im Geschehen. Das Wichtige: Der Satz bezieht sich direkt auf den Inhalt des letzten Paragraphen und verbindet es mit der Figur, die in der Szene vorkommen wird (Baghra) und wie die Figur zu den Entwicklungen des letzten Paragraphen steht.
Es folgt ein kurzer Dialog und dann noch ein bisschen mehr Zeitraffer, aber das ist für unsere Zwecke irrelevant. Denn mit den drei beschriebenen Paragraphen wurde ein nachvollziehbarer, eleganter und in sich geschlossener Zeitsprung geschaffen, nach dem der Lesende kein Problem hat, der Geschichte weiter zu folgen.
Mein Fazit
Die Zeitraffer von Leigh Bardugo sind dicht gefüllt mit Worldbuilding, in sich geschlossenen Mini-Geschichten, Emotionen und inhaltlichen Entwicklungen. Gleichzeitig sind sie einfach zu lesen und zu verstehen. Sie sind ein wunderbares Beispiel für die (fast) – und ich schreibe „fast“ nur, weil es immer etwas zu verbessern gibt – perfekte Umsetzung von Zeitsprüngen und Zeitraffern.
Hier ein paar Ideen, die du in deine eigenen Zeitsprünge und Zeitraffer einbauen kannst:
- Mini-Geschichten innerhalb des Zeitsprungs helfen dem Verständnis
- beachte nicht nur die Geschehnisse während des Zeitsprungs, sondern versuche sie mit expliziten Beispielen mit der Hauptfigur und ihren Emotionen zu verbinden
- (oberflächliches) Worldbuilding kann Zeitsprüngen eine weitere interessante Facette geben
- indem du einen spzifischen emotionalen Absprungpunkt schaffst, kannst du direkt durch die einfache Erwähnung einer weiteren Figur in das neue Jetzt starten
Was denkst du? Konntest du aus dem Zeitraffer etwas lernen? Ist dir noch etwas anderes aufgefallen als mir?
Ich habe da beim Lesen nie so aktiv drüber nachgedacht, aber ich finde, du hast absolut recht. Sie hat wirklich eine tolle Art, solche Zeitsprünge zu schreiben. 🙂 Die Checkliste nehme ich mir für zukünftige Zeitsprünge mal mit 🙂
Ne?! Ich war so begeistert, als ich diese Zeitsprünge gelesen habe^^“
Da haben wir beide jetzt dieselbe Checkliste für Zeitsprünge 😀