Rezension – Sweet Tooth von Jeff Lemire

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich einen Trailer für die neue Netflix Serie Sweet Tooth gesehen. Der Trailer sah interessant aus und als ich herausgefunden habe, dass es eine Comicbuch-Adaption war, habe ich nicht lange gezögert und mir die Comics als Compendium geholt. So. 900 Seiten an einem Tag später bin ich bereit meine Gedanken dazu aufzuschreiben.

Hinweis: Ich habe das Comic auf Englisch gelesen, deswegen kann es sein, dass ich einige Wörter anders übersetze, als in der offiziellen deutschen Übersetzung.

Worum geht es in „Sweet Tooth“?

Gus „Sweet Tooth“ ist ein neunjähriger Junge. Naja, Junge trifft es nicht ganz. Gus ist ein Hybrid. Ein Mischwesen aus Mensch und Tier. Denn vor acht Jahren ist eine Krankheit ausgebrochen, die dafür sorgte, dass alle Kinder als Mischwesen zur Welt kamen, während der Rest der Menschheit elendig stirbt. Allein diese Hybriden sind immun gegen die Krankheit und dafür werden sie gehasst.
Gus lebt tief im Wald allein mit seinem Vater, einem – wie es scheint – christlichen Fundamentalisten, der seinen Glauben an Gott mit den Mischwesen zu vereinen versucht und eine neue Bibel schreibt. Die Mischwesen als Erlösung. Doch der Vater stirbt an der Krankheit und auf einmal ist Gus allein in einer Welt, die ihm und allen anderen Hybriden die Schuld an der Krankheit gibt. Ein postapokalyptischer Albtraum, eine Geschichte von Freundschaft, Vertrauen, Verrat und Gewalt.

Was ist meine Meinung zu „Sweet Tooth“?

Die Prämisse der Geschichte hat mich sofort gepackt: Postapokalyptische Low Fantasy habe ich noch nicht viel gelesen und die Idee der Hybriden hat mir sehr gefallen. Auch beim Lesen hatte ich (offensichtlich) meinen Spaß, immerhin habe ich die 900 Seiten an einem Tag in wenigen Stunden gelesen. Allerdings ist die Geschichte nicht ohne ihre Schwächen.

„The Big Man“ Shepherd … ich meine Jepperd

Nachdem Gus‘ Vater gestorben ist, trifft der Junge bald auf Jepperd, einen brutalen Schlägertypen, der Gus helfen möchte zu der „Preserve“ – einem sicheren Ort für Hybride – zu gelangen. Und mit Jepperd hatte ich meine Probleme. Es folgen leichte Spoiler im nächsten Absatz.
Ich war direkt ein wenig enttäuscht von seinem Namen, der einem das Ende der Geschichte irgendwie vorwegnimmt. Auf Deutsch ist es vielleicht nicht so offensichtlich, aber der Name Jepperd ist klanglich sehr nahe an dem Wort „shepherd“ also Hirte. Und weil Gus‘ Vater ein christlicher Fundamentalist ist, ist mit der ersten Nennung des Namens klar, dass Jeppard Gus in das gelobte Land bringen wird. Der Name bestimmt seine Rolle und ist dabei nicht gerade subtil. Aber ein „charakterisierender Name“ allein macht eine Figur ja nicht schlecht. Auch Alina Starkov („die Strahlende“ + „Stern“ + russisch angehauchte Endung) aus der Shadow and Bone-Reihe hat einen beschreibenden Namen und die Bücher habe ich gerne gelesen. Das Wort shepherd als Grundlage für die Namensbedeutung zu nehmen ist einfach ein so verbreitetes und bekanntes Klischee, dass ich nur mit den Augen rollen konnte.

Jepperd als Perspektivträger, die größte Schwäche

Aber ich hatte noch ein anderes Problem Jepperd. Jeppard und Gus teilen sich die Haupterzählperspektiven und ich hätte Jeppard nicht langweiliger finden können. Nicht weil an Konflikt oder Drama gefehlt hätte – nein, davon gab es viel. Jeppard ist ein von seiner Vergangenheit verfolgter Mann. Er ist brutal, hat seine – natürlich wunderschöne und unschuldige – Frau verloren. Seitdem ist er zynisch, rachsüchtig, einzelgängerisch und emotional abgeschottet und es wird wahnsinnig viel Zeit darauf ver(sch)wendet, ihm eine passende Redemption Arc zu geben. Und das ist so öde. Diesen Figurentyp habe ich schon tausendmal gesehen/gelesen. Natürlich unterscheiden sich die Details, Jepperd ist nicht (wie es für diesen Figurentyp typisch ist) Ex-Militär, er ist ein ehemaliger Hockeyspieler, aber Persönlichkeit und Auftreten sind austauschbar mit jedem 08/15-Action-Helden, der durch den Tod seiner Partnerin angetrieben wird.
Gus mit seiner kindlichen und naiven Perspektive war so viel einnehmender und interessanter. Ich hätte davon einfach viel mehr sehen wollen, anstatt 50-60% der Zeit mit Jepperd und seinem ausgelutschten Erzählbogen zu verbringen.

Allerdings möchte ich auch sagen: Die Nebenfiguren waren durch die Bank weg Highlights. Zwar ist der Antagonist ein bisschen klischeebelastet, aber das vergisst man leicht und gerne zwischen den interessanten und abwechslungsreichen Nebenfiguren.

Der Zeichenstil

Zu Anfang war der Zeichenstil ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber er passt hervorragend zu dem Setting und der Geschichte. Er ist nicht „schön“, die Hybriden sehen zum Teil fast dämonisch aus und die dargestellte Gewalt ist explizit detailreich und deutlich hervorgehoben. Die Farben sind – bis auf das rot des Blutes – gräulich und ausgewaschen und unterstreichen das Gefühl der postapokalyptischen Welt.

Außerdem sehr interssant und ein Highlight für mich: Es gibt unterschiedliche Zeichenstile für verschiedene Erzählperspektiven und auch wenn Träume oder Erinnerungen gezeigt werden. Diese Änderungen unterstreichen die Andersartigkeit der Perspektiven effektiv und waren immer eine willkommene Abwechslung von dem „derben“/normalen Stil.

Der Ursprung der Krankheit (Spoiler)

Ich war mir am Anfang nicht sicher, ob ich diesen Punkt ansprechen wollte. Aber ich möchte ihn zumindest erwähnt haben: Die Krankheit bricht aus, weil – ein bisschen vereinfacht – ein Friedhof eines indigenen Stammes Alaskas entweiht wird. Genauer ist es der Gott der Jagd der Inuit namens Tekkeitsertok, der für die Krankheit verantwortlich sein soll. Damit habe ich mich unwohl gefühlt, denn diese Darstellung scheint nichts mit dem tatsächlichen Gott zu tun zu haben – zumindest ergab eine kurze Recherche meinerseits keine Informationen in diese Richtung.
Ich hatte gehofft, dass sich die Figuren im letzten Kapitel damit auseinandersetzen, weil sie den Friedhof finden, aber die indigene Bevölkerung – die zu den ersten Opfern der Krankheit zählen – wird nie wieder erwähnt. Die Götter einer Bevölkerungsgruppe, die sowieso viel Diskriminierung erfährt, (falsch) zu benutzen, erscheint mir im besten Fall unsensibel.

Mein Fazit – Wem könnte das Buch gefallen?

Sweet Tooth ist zwar am Anfang und am Ende aufgebaut wie ein Märchen, ist aber weit entfernt von einer kinderfreundlichen Geschichte. Die Zeichnungen sind sehr blutig und brutal. Auch die behandelten Themen sind nicht immer einfach zu schlucken. Das hat keinen Einfluss auf die Qualität der Geschichte, allerdings hatte ich eine „familienfreundlichere“ Geschichte erwartet und war bei der ersten gewaltsamen Auseinandersetzung ein wenig überrascht.
Insgesamt ist Sweet Tooth eine interessante Geschichte mit einer ausgefallenen Prämisse. Wenn sich postapokalyptische low Fantasy interessant für dich anhört, dann wirst du mit Sweet Tooth deinen Spaß haben – ich war auf jeden Fall gut unterhalten. Eine grundsätzliche Empfehlung möchte ich wegen der oben besprochenen Schwächen allerdings nicht aussprechen.


Hast du Sweet Tooth gelesen oder hast es noch vor? Was hältst du von der Geschichte?

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