Das Ende deiner Geschichte: Die Protagonisten und ihre Kinder

Lass mich dir das Ende eines Buches beschreiben. Das letzte Kapitel ist beendet, der Antagonist besiegt, die Figurenentwicklung zufriedenstellend abgeschlossen. Dann folgt der Epilog. Er spielt vielleicht 10 oder 20 Jahre in der Zukunft und beschreibt die Situation des Protagonisten. Sie/er ist jetzt verheiratet – natürlich mit dem/der Partner*in aus der Geschichte. Sie haben Kinder. Und Ende.
Kommt dir dieses Ende bekannt vor? Zugegebenermaßen findet es sich hauptsächlich in der Fantasy, aber dort ist es der Standard. Aber diese Art von Ende stört mich ungemein.

Warum ein Epilog?

„Epilog“ kommt auch aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich Nachwort (επίλογος; epi = danach, logos = Wort). Es ist dazu da, offen gebliebene Fragen zu beantworten oder eine die Moral der Geschichte darzulegen. Oft wird er genutzt, um in die „Zukunft“ zu springen und dem Lesenden einen Blick auf das Leben der Protagonisten zu ermöglichen. Und das finde ich schwierig.
Es ist kein Geheimnis, dass ich kein großer Fan von Epilogen – oder Prologen oder Rückblenden – bin. Die Geschichte, der Plot und die Charakterentwicklung sind meist mit dem letzten Kapitel (ohne den Epilog) abgeschlossen. Allein diese Tatsache lässt den Epilog oftmals in einem seltsamen Zwielicht schwimmen. Gehört er noch wirklich zur Geschichte? Was löst es beim Leser aus, die Figuren plötzlich ein paar Jahrzehnte älter zu sehen? Von einem rein äußerlichen Standpunkt finde ich es schwierig, viele Epiloge als einen wertvollen Zusatz zum Buch zu sehen.

Jahre vergehen, Figuren unverändert

Aber ich kann es auch verstehen, dass man sehen möchte, was mit den Figuren passiert, nachdem die Geschichte vorbei ist. Schließlich hat man sie im Laufe des Buches lieb gewonnen. Aber das stellt den Schreibenden vor ein weiteres Problem: 10, 20 oder auch nur 5 Jahre sind eine lange Zeit, in der viel passieren kann. Trotzdem sind die Figuren in ihrem Epilog meist komplett unverändert. Vielleicht werden sie mit einigen grauen Strähnen beschrieben, aber ein Nachschub in der Länge eines Kapitels reicht nunmal nicht, um weitere Veränderungen zu zeigen. Da ist es einfacher – für den Schreibenden und Lesenden – wenn die Figuren einfach gleich bleiben.

Aber auch das führt dazu, dass die Unwirklichkeit des Epilogs betont wird. Wer ist nach Jahren denn unverändert? Ist das etwas, das wir für unsere Figuren wollen? Dass sie in ihrer Persönlichkeit feststecken?

Ist Heirat immer ein gutes Ende für die Figuren?

Wenn in der Geschichte zwei Figuren eine Beziehung eingehen, kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass sie im Epilog verheiratet sind. Ich verstehe, dass man den Figuren ihr Happy End geben möchte, aber warum ist Heirat das Happy End?

Beziehungen gehen kaputt.

Die Figuren sind meist noch relativ jung, wenn die Geschichte stattfindet. Da wäre es nicht unwahrscheinlich, wenn sie Jahre später getrennt wären. Das wäre natürlich nicht das Happy End, das sich viele wünschen würden, aber es wäre realistisch(er). Und tatsächlich stört es mich noch nicht einmal, wenn ein Buch mit der Heirat von Figuren endet. Es stört mich, dass die Figuren heiraten „müssen“, wenn sie in einer Beziehung waren. In gefühlt jedem Buch.

Auch ohne Heirat kann man glücklich sein.

Ich wünsche mir einfach Abwechslung von den Geschichten, die immer mit Heirat enden. Warum sind die Figuren nicht einfach noch „nur“ in einer Beziehung? Warum sind sie nicht in einer Beziehung mit jemand anderem – und trotzdem glücklich? Und warum haben sie sich nicht getrennt und sind glücklich als Freunde? Oder warum haben sie sich nicht auseinandergelebt?
Ich verstehe, dass diese Enden nicht unbedingt in das Bilderbuch-Happy-End passen, aber sie fühlen sich „echter“ an. Zumindest für mich. Wenn jedes Buch in einer Heirat endet, dann vermittelt das unterbewusst, dass eine Heirat für ein erfülltes Leben notwendig ist, und das stimmt einfach nicht.

Die eigene Vorstellung

Hier kommt der Punkt, der mir selbst am wichtigsten ist: Wenn der Schreibende das Ende mit einer Heirat Jahre später abschließt, ist dieses Ende geschrieben, nein, es ist vorgeschrieben. Mir ist es am Ende von Büchern oft die größte Freude, mir auszudenken, was noch alles passieren könnte, welche Wege die Figuren einschlagen könnten. Natürlich könnte ich dabei die Vision des Schreibenden ignorieren und mir meine eigenen Enden bestimmen, aber ich weiß trotzdem, dass dieses Ende nicht vorgesehen ist.
Mit einem festen Ende – unabhängig ob Heirat oder nicht – kann ich nicht mehr so frei träumen, wie ich es sonst getan hätte.

Warum Kinder?

Zusammenhängend mit der Heirat kommen in dem Ende auch immer Kinder. Sogar wenn die Protagonistin – und hierbei denke ich an Katniss Everdeen aus Die Hungerspiele – explizit gesagt hat, dass sie niemals Kinder haben will, bekommt sie Kinder.

  1. Man braucht keine Kinder, um ein erfülltes Leben zu haben.
  2. Warum müssen Kinder immer ein Zeichen eines glücklichen verheirateten Paars sein?
  3. Warum müssen – besonders Frauen – erkennen, dass sie ja immer Kinder haben wollten, auch wenn sie in der Geschichte explizit dagegen waren?
  4. Und warum sind es – wenn die Figuren dann Kinder haben – immer mindestens zwei, aber meistens mehr? Warum nicht „nur“ eines?

Auch hier gilt dasselbe, wie bei meiner Meinung zu der Heirat von Figuren: Ich habe nichts dagegen, wenn Figuren Kinder bekommen. Das kann ein wunderschönes und passendes Ende der Geschichte sein. Aber warum müssen die Figuren Kinder haben, damit es ein gutes Ende ist?

Außerdem: Warum sind Kinder so oft nach Verstorbenen benannt?

Das erste Beispiel, das mir hier einfällt – und auch gleich immer doppelt schuldig – sind die Kinder von Harry Potter: Albus Severus Potter, James Sirius Potter und Lily Luna Potter. Alle drei von ihnen sind nach verstorbenen benannt und allein Lily Luna hat das Glück, das eine Namensgeberin noch nicht tot ist. Was sollen sich die Kinder denn da denken?
Bestenfalls sind es für sie nur Namen. Aber es kann genausogut sein, dass mit dem Namen die Verantwortung kommt, ihm gerecht zu werden. Jeder Erfolg oder Misserfolg des Kindes könnte sich auf die Erinnerung der Verstorbenen niederschlagen. Zusätzlich bekommt das Kind mit den Namen der Verstorbenen eine fremde Identität. Jedes Mal wenn der Name benutzt wird, wird sich das Kind erinnern, dass der Name nicht sein eigen ist. Vielleicht werden die Eltern ihre Trauer auf das Kind projezieren oder ihre Hoffnung, dass das Kind so wird wie sein Namensgeber. Ich sehe einfach zu viele Probleme, um es in Büchern unvoreingenommen als gut zu bezeichnen.

Aber: Es ist natürlich nicht schlecht, Kinder nach Verstorbenen, Familienmitgliedern und/oder Freunden zu benennen. Es kann eine sehr schöne Geste sein oder auch eine Tradition fortsetzen. Trotzdem stört es mich in der Häufigkeit, in der es in Büchern vorkommt.

Ein Fazit?

Ich vermute, dass meine Schwierigkeiten mit Enden solcher Art mehr etwas über mich und meine Lesegewohnheiten aussagen als über die Schreibenden selbst. Ein Ende, wie ich es oben beschrieben habe, kann ein toller und erfüllender Abschluss einer Geschichte sein – nur eben für mich nicht. Ich sehne mich nach Abwechslung, nach Enden, die einfach Enden sein dürfen, ohne in die Zukunft schauen zu müssen. Enden, in denen Frauen keine Kinder haben oder heiraten müssen, um ein erfülltes Leben zu haben. Und Kinder, die sie selbst sein dürfen, ohne die Bürde der Verstorbenen tragen zu müssen.


Was hältst du von den Enden, wie ich sie beschrieben habe?

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3 Replies to “Das Ende deiner Geschichte: Die Protagonisten und ihre Kinder”

  1. Nike Leonhard says:

    Ich stimme dir zu 100% zu. Heirat ist für ein erfülltes Leben nicht nötig. Kinder sowieso nicht. Ganz im Gegenteil: Kinder sozusagen als Kirsche auf dem Sahnehäubchen des erfüllten Lebens darzustellen, wird weder Kind noch Eltern gerecht. Einerseits degradiert es das Kind zu einem Requisit und Statussymbol der Eltern. Gleichzeitig wird unterschlagen, dass ein Kind eben kein Token ist, das magischerweise Friede, Freude und Glücksseligkeit versprüht, sondern das Leben der Eltern gründlich durchrüttelt. Im schlimmsten Fall kann das für die Beteiligten so viel Stress bedeuten, dass die Beziehung zerbricht.

    Für mich bedeutet Happy End, dass die Protagonist:innen ihre eigenen Probleme überwinden und als Persönlichkeit reifen. Wenn sich dadurch auch der äußere Status positiv ändert, ist das schön. Aber es ist kein Muss, so lange sie mit sich und der Welt im Reinen sind.

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    1. Sina Bennhardt says:

      Ich finde ein „Happy End“ auch immer viel erfüllender, wenn die Figuren ihre Konflikte überwinden und daran wachsen. Wenn sich daraus die (natürliche) Entwicklung von Beziehung, Heirat, Familie und/oder Kinder entwickelt, dann ist das schön, sollte aber nicht erzwungen werden aus genau den Gründen, die du gesagt hast.

      Schön, dass ich nicht die einzige bin, die das so empfindet 🙂

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  2. Ulrike Jonack says:

    Es geht mir Epilogen wie mit Prologen: Wenn sie inhaltlich einen Mehrwert bieten oder – noch besser! – essentiell wichtig für die Story sind, nur eben aus bestimmten Gründen (Stil, Zeit, Erzähler/Standort) nicht nahtlos in den Haupttext passen, dann mag ich sie. Meist sehe ich aber diesen Mehrwert oder die Wichtigkeit nicht.

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