Mein Ziel ist es, Geschichten aus immer neuen Blickwinkeln zu betrachten. Neulich habe ich darüber nachgedacht, warum ich es schwierig finde, die Bücher mancher Autoren zu lesen. Zuerst fällt mir da Karl May ein, dessen Stil mich noch nie überzeugen konnte. Sein Hang zu überdetaillierten Beschreibungen schreckt mich immer noch ab, aber warum? Es kann doch nicht nur daran liegen, dass ich ein sehr schlechtes bildliches Gedächtnis habe. Nein, mit fehlte eine gewisse Unvollständigkeit in seinem Schreiben.
Was meine ich mit Unvollständigkeit?
Es mag sich zuerst ein wenig seltsam anhören, wenn man von einem Buch möchte, dass es unvollständiger ist. Deswegen möchte ich diesen Ansatz erklären: Das Lesen ist ein Hobby, dem Kreativität zugrunde liegt. Mit deinem Geschriebenen bietest du einen Bauplan, ein Leitwerk, an dem sich die Vorstellungskraft entlanghangeln kann. Aber deine Geschichte entsteht erst im Kopf deiner Leser:innen. Erst dort wird sie vervollständigt. Erst dort enstehen Bilder und Zusammenhänge.
Du kannst gar nicht jeden Aspekt deiner Geschichte beschreiben oder es würde maßgeblich das Geschehen beeinträchtigen. Deswegen muss deine Geschichte in gewissen Aspekten unvollständig sein. Doch das macht besonders ungeübten Schreiberlingen Angst. Denn, was wenn man zu wenig schreibt? Und überhaupt, wie kannst du die Unvollständigkeit umsetzen? Und wie kommt diese Unvollständigkeit bei deinen Leser:innen an?
Die unvollständige Beschreibung
Ist es dir wichtiger, dass das Bild in den Köpfen deiner Leser:innen genau mit dem Bild in deinem übereinstimmt oder ist es wichtiger, dass die Geschichte ankommt? Es ist allgemeiner Konsens, dass man die Menge der Beschreibungen in deiner Geschichte an ihre Wichtigkeit gekoppelt sind. Je mehr Beschreibungen, desto wichtiger ist ein Detail. Wird wenig beschrieben, ist es wahrscheinlich auch nicht besonders wichtig.
Nutze lieber wenige ausdrucksstarke Worte, die bei den Lesenden Bilder und Gefühle hervorrufen, die wichtig für die Szene sind, als einen Absatz damit zu verbringen, die Rußflecken auf einem Topf zu beschreiben. (Wie immer bestätigen Ausnahmen die Regel.)
Da ich schon einige Artikel über Beschreibungen und wie man bei ihnen vorgehen kann geschrieben habe, werde ich es bei diesem kurzen Anstoß belassen. Interessieren dich Beschreibungen allerdings tiefergehend, kannst du mal in den folgenden Artikeln stöbern:
- Kreative Beschreibungen in deinen Geschichten – Nur eine Stilfrage?
- 5 Schritte für bessere Beschreibungen
- Beschreiben ohne bildliches Gedächtnis – Wie funktioniert das?
- Wie beschreibst du das Aussehen deiner Figuren richtig?
Unvollständigkeit bei deinen Figuren
Unvollständigkeit bei Figuren ist deutlich schwieriger als die Unvollständigkeit in der Beschreibung, folgt aber denselben Regeln: Von groß nach klein, vom Wichtigsten Aspekt zu den Unwichtigsten. Wenn das Fundament stimmt, kann der Rest freier und „unvollständiger“ sein.
Im Charakter
Die durchschnittliche Figur wird nicht genau wissen oder analysieren, warum sie sich so fühlt wie sie es tut oder warum sie manche Dinge machen möchte und andere nicht. Dieses Nachdenken also Figuren anzuhängen – meist aus Sorge, dass der Leser sonst nicht versteht, wie eine bestimmte Entscheidung gemeint war – fühlt sich oft unnatürlich an. Die meisten Figuren, wie die meisten Menschen auch, reflektieren ihr Verhalten nicht in jedem Moment. Vielleicht im Anschluss, aber nicht sofort.
Dieses Auslassen einer direkten Erklärung lässt deinen Leser:innen einen gewissen Interpretationsspielraum, das Verhalten der Figuren einzuschätzen und zu beurteilen. Du gibst ihnen die Möglichkeit, sich in den Lücken der Figuren wiederzufinden. Das führt zu einer individuellen Erfahrung beim Lesen und der Möglichkeit, die eigene Wahrnehmung auf die Figuren anzuwenden. Und wenn du deine Leser:innen geistig in den Prozess des Lesens einbeziehst, ist das – zumindest aus meiner Sicht – immer etwas Gutes.
Willst du allerdings, dass bestimmte Figuren auf eine sehr bestimmte Art und Weise verstanden werden, solltest du dich expliziter ausdrücken.
Im Äußerlichen
Hier gilt dasselbe, was ich schon zu der Unvollständigkeit beim Beschreiben gesagt habe. Trotzdem möchte ich auch bei den Figuren noch einmal betonen, dass sie keine vollständigen „Listen“-Beschreibungen brauchen. Die Lesenden merken, wenn man sich nur an einer Liste abarbeiten, die die „wichtigsten Merkmale“ einer Figur enthalten. Das sind oft Größe, Figur, Haar- und Augenfarbe. Damit meine ich nicht, dass diese Sachen unwichtig sind, aber ausschrieben muss man sie oft auch nicht.
Außerdem für eine sehr subjektive Perspektive: Ich bevorzuge meistens Formulierungen wie „dunkle Haare“, anstatt mit einer genauen Farbe konfrontiert zu werden – außer die bestimmte Farbe ist wichtig für die Geschichte. So habe ich einfach die Möglichkeit die Farbe der Haare selbst zu bestimmen und so kann ich mir die (selbst ergänzten) Details einfacher merken.
Wann ist es wichtig, vollständig zu schreiben?
Trotzdem gibt es einige Teile deiner Geschichten, die vollständig sein sollten. Ich denke hier vor allem an den Plot und die generelle Struktur der Geschichte. Allerdings ist auch hier weniger Arbeit nötig, als du vielleicht im ersten Moment denken magst. Der Plot sollte keine logischen Punkte offen lassen und (nachvollziehbar) von einer Szene zur nächsten fließen. Ist der Plot ein bisschen freier und schwieriger verständlich, solltest du deutlich darauf achten, dass mindestens die Struktur der Geschichte eine Basis gibt, an der sich deine Leser:innen entlanghangeln können.
Wenn deine Geschichte eine verständliche und vollständige Basis hat – durch Plot und/oder Struktur -, dann fallen die kleinen kreativen Unvollständigkeiten gar nicht auf, nein, sie bereichern deine Geschichte, weil sie den Lesenden direkt dazu auffordern an deiner Geschichte teilzunehmen. Die Kunst ist es so zu schreiben, dass zwar nichts fehlt, aber das Bild muss auch nicht ganz vollständig sein.
Aber auch hier bestätigen Ausnahmen die Regeln und Geschichten mit unvollständigem Plot und/oder Struktur können funktionieren. Allerdings sind Geschichten, die nicht den klassischen Erzählstrukturen folgen, für das durchschnittliche Publikum oft nicht so zugänglich. Trotzdem kann eine Geschichte mit unvollständigem Plot wahnsinnig faszinierend und lesenswert sein.
Wie hältst du es mit der Unvollständigkeit in deinen Geschichten? Erklärst du eher zu viel oder zu wenig?
Toller Beitrag. Und ein wirklich interessantes Thema. Darüber muss ich auch mal nachdenken…
Schön, dass ich dir einen Anstoß geben konnte 🙂