Ob in deinen Geschichten Beleidigungen oder generell Kraftausdrücke vorkommen, ist eine sehr subjektive Entscheidung. Ich persönlich bin meist kein großer Fan von ihnen, weil ich sie häufig überflüssig, unnötig oder einfach zu unkreativ finde. Trotzdem sehe ich einen großen Wert in der Benutzung von Beleidigungen in einer Geschichte, vor allem wenn sich der Weltenbau darin wiederspiegelt.
Content Note: Ich werde in diesem Artikel menschenfeindliche Ausdrücke nennen, die z.B. ableistisch, sexistisch, sexnegativ und mehr sein können. Ich möchte nicht implizieren, dass du -istische Ausdrücke brauchst, um „realistische“ Beleidigungen zu schreiben. Allerdings sind diese Worte oft am weitesten verbreitet und damit (leider) gut als Beispiel geeignet.
Was sind Beleidigungen?
Beleidigungen sollen – wer hätte es gedacht? – beleidigen, also „jemanden (durch eine Äußerung, Handlung o.Ä.) in seiner Ehre angreifen, verletzen“ (Duden). Da ist es nur natürlich, dass besonders die Eigenschaften/Objekte/Handlungen gewählt werden, die in der bestimmten Kultur wertlos oder aktiv abstoßend sind. Diese auf den ersten Blick unspektakuläre Beobachtung solltest du nicht unterschätzen. Schimpfwörter oder -phrasen geben dir die Möglichkeit, dem Leser direkt zu sagen, was in der Kultur verachtet wird – und das ohne die Immersion zu brechen. Das ist extrem wertvoll!
Was sind die Werte deiner Kultur?
Bevor du dir aber überlegen kannst, welche Formen deine Beleidigungen annehmen können, solltest du dir Gedanken darüber machen, was die spezifischen Werte deiner Kultur sind. Dabei ist es extrem wichtig, dass du dich mit deiner eigenen Befangenheit (im Englischen auch „Bias“ genannt) und den Befangenheiten deiner Kultur auseinandersetzt. So stellst du sicher, dass deine eigenen Befangenheiten so wenig wie möglich in die im Buch beschriebene Kultur einfließen.
Wie erkennst du deine eigenen Befangenheiten?
Den eigenen Bias zu erkennen ist fortlaufender und nicht endender Prozess. Ich würde zwar jedem Menschen empfehlen, sich ausgiebig (auch außerhalb des Schreibens) damit zu beschäftigen, aber das ist im Rahmen eines Schreibprozesses oft nicht vollständig möglich. Deswegen habe ich hier ein paar Tipps, wie du deine eigenen Befangenheiten (oder die deiner Kultur) auseinandernehmen kannst. Dabei solltest du dir immer drei Fragen stellen:
- Was genau ist die Eigenschaft oder das Merkmal, das als negativ bezeichnet wird?
- Warum ist das eine schlechte Eigenschaft?
- Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Kultur ableiten?
Das möchte ich an zwei Beispielen demonstrieren, die ich beide schon oft gehört habe, aber so behandeln werde, als würde ich sie zum ersten Mal hören.
Beispiel 1: „Flittchen“
Das Wort „Flittchen“ beschreibt eine „leichtlebige [junge] Frau, die häufig und mit verschiedenen Männern sexuelle Beziehungen hat“ (Duden). Nachdem du die genaue Bedeutung des Wortes geklärt hast, kannst du dich den Fragen von oben zuwenden.
Im Kern des Wortes „Flittchen“ steht der Vorwurf des sexuellen Auslebens. Das bedeutet sofort, dass die Kultur, aus der dieses Wort kommt, ein gewisses Maß an Sex-Negativität hat. Es impliziert, dass Menschen wenige Partner haben sollen. Außerdem ist interessant, dass sich das Wort speziell auf (junge) Frauen bezieht. Es schwingt also ein gewisser impliziter Sexismus mit, da Männer von dem Wort offensichtlich ausgeschlossen sind. Warum ist es aber schlecht eine junge Frau zu sein, die ihre Sexualität auslebt? Hier gibt es (ohne weiteren kulturellen Kontext) erstmal keine eindeutige Antwort. Vielleicht wird Monogamie hochgeschätzt. Vielleicht hat es etwas mit (sexueller) „Reinheit“ zu tun. Oder beides oder mehr.
Beispiel 2: „behindertes Arschloch“
Diese Beleidigung besteht aus zwei Wörtern, die ich einzeln betrachten werde. Das Wort „Arschloch“ ist ein (obszönes) Synonym für den After eines Menschen. Warum es als Schimpfwort benutzt wird, ist dabei relativ einleuchtend: „Arschloch“ reduziert den Menschen auf ein anatomisches Merkmal, das häufig mit Fäkalien und deswegen mit Unreinheit, Gestank und manchmal auch Krankheit in Verbindung gebracht wird. All diese Merkmale werden also implizit auf den Empfänger der Beleidigung übertragen.
Das Wort „behindert“ bedeutet „infolge einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung beeinträchtigt“ (Duden). Auch hier wird der Mensch auf eine einzelne als negativ eingestufte „Eigenschaft“ reduziert. Es wird impliziert, dass der Mensch durch die körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung weniger wert ist als mindestens der Sprecher.
Was bedeutet diese Wortwahl für die Kultur? Schimpfwörter wie „Arschloch“, die eine Nähe zu Fäkalien suggerieren sind in vielen Kulturen verbreitet und ist deswegen als Beleidigung relativ „neutral“. (Dazu im nächsten Artikel mehr.) Das Wort „behindert“ hingegen ist offen, deutlich und sehr spezifisch ableistisch und sagt damit viel über die Werte der Kultur aus.
Ich rate dir, diese Übung für ein paar dir bekannte Beleidigungen durchzuführen. Such dir ein beliebiges Schimpfwort aus und versuche es zu analysieren. Ich würde mich freuen, einige Beispiele in den Kommentaren zu sehen.
Welche Eigenschaften sind generell positiv?
Wie findest du die positiven Werte deiner Kultur? Das ist gar nicht so einfach wie es sich zunächst anhört. Allerdings gibt es etwas, dass ich „allgemeine positive Eigenschaften“ nenne, die in vielen Kulturen unserer Welt zu finden sind und sich deswegen als erster Ansatzpunkt eignen.
- Hilfsbereitschaft (Großzügigkeit, Verständnis, Gastfreundschaft, etc.)
- Respekt (Einhaltung von sozialen/rechtlichen/etc. Regeln, etc.)
- Gerechtigkeit (Loyalität, Ehrlichkeit, etc.)
- oft auch Spiritualität/Glaube an eine bestimmte (!) Religion
- usw.
Diesen Eigenschaften ist gemein, dass sie für den friedlichen und langlebigen Fortbestand einer Kultur von Vorteil sind. Hilfsbereitschaft führt dazu, dass auch benachteiligte Menschen in der Gesellschaft leben können. Respekt hilft, dass sich die Menschen an die Regeln der Kultur halten und Gerechtigkeit verhindert, dass Menschen ausgebeutet werden.
Natürlich muss eine Kultur die oben genannten Eigenschaften trotzdem nicht durchweg als positiv sehen, oder kann sich auf eine Auswahl von ihnen beschränken. Auch wie hoch diese Werte geschätzt werden kann (und sollte) sich unterscheiden. Die wichtigste Unterscheidung wirst du beim Umsetzen der Werte sehen. Wer ist von den Werten ausgeschlossen? Wo sind die Grenzen der positiven Werte und gibt es spezifische Ausnahmen? Wie genau äußern sich die Werte im alltäglichen Leben?
Für kulturspezifische positive Eigenschaften solltest du darüber nachdenken, welche Grundsätze im Kern der Kultur liegen. Hab keine Angst davor sehr spezifisch zu werden. Befinden wir uns in einer Kultur, in der fast jeder Mensch Pferde besitzt? Es könnte zum guten Ton gehören, niemals seine Stimme zu heben, weil das die Tiere aufschrecken könnte. Das heißt, ein ruhiges Temperament, Zurückhaltung und Bemessenheit wären extrem geschätzt. Um also den Bogen zu den Schimpfwörtern zu schlagen, könnte eine verbreitete Beleidigung sein, dass jemand „laut“ ist.
Welche Eigenschaften sind generell negativ?
Um die allgemeinen Eigenschaften zu finden, die in einer Kultur als negativ angesehen werden, genügt es oft, die positiven Eigenschaften umzukehren. Am Beispiel oben: Egoismus, Respektlosigkeit, Untreue etc. und schon hast du eine Sammlung an allgemein verständlichen negativen Merkmalen.
Allerdings rate ich dir auch dazu, dir negative (oder positive) Eigenschaften auszudenken, die kein positives (oder negatives) Gegenstück haben. In der Kultur könnte es beispielsweise nicht angesehen sein, Geld zu horten, aber es ist gleichzeitig keine positive Eigenschaft, großzügig zu sein. Wenn Geld einfach nicht den Wert hat, wie in unserer Kultur, kann es eher als Werkzeug betrachtet werden und somit ergibt das Horten davon genauso viel Sinn wie Schraubenzieher zu sammeln.
Übrigens: Wenn es dir leichter fällt, kannst du auch mit den negativen Werten deiner Kultur anfangen und aus ihrem Gegenteil die positiven Werte deiner Kultur ableiten. Ganz wie es dir am besten gefällt.
Beim nächsten Mal werde ich dir zeigen, wie du Beleidigungen bauen kannst.