Was du beim Schreiben von Musicals lernen kannst

Für das Schreiben finde ich es sehr wichtig, Inspiration aus vielen verschiedenen Medien zu ziehen und zu verstehen, warum und wie sie sich voneinander unterscheiden. Im letzten Jahr habe ich mich viel mit Musicals auseinandergesetzt wie z.B. Hamilton, Hadestown oder auch einfach Disneyfilme, die ich zwecks Beispielen aber auch wegen ihres Aufbaus zu den Musicals zählen möchte. Dabei ist mir etwas aufgefallen, das ich sehr interessant fand und das sich auf das Schreiben übertragen lässt.

„I want“– Songs und „I am“-Songs in Musicals

Musicals haben einen ganz eigenen Aufbau und eigene Regeln, die sie deutlich von geschriebenen Geschichten unterscheiden. Diesen Aufbau und Regeln zu erläutern würde für diesen Artikel zu lange dauern, deswegen werde ich hier nur auf zwei Aspekte eingehen, die man in den meisten Musicals findet. Den „I want“-Song und den „I am“-Song.

Der „I want“-Song

Der „I want“-Song ist das Lied eines Musicals, das die Motivation und die Ziele einer Figur – meist des Protagonisten – darstellt. Das Lied kommt normalerweise direkt nach der Ouvertüre und dem ersten Lied, das die Welt des Musicals vorstellt. Denke an Lieder wie „My Shot“ aus Hamilton, „Arielles Traum“ (engl. Part of your World) aus Arielle oder „Ich bin bereit“ (engl. How far I’ll go) aus Vaiana/Moana. In dem „I want“- Song sagen die Figuren buchstäblich, was ihre Motivationen und Ziele sind, damit sich die Zuschauenden darauf einstellen können. Arielle möchte zu den Menschen an Land, Moana möchte auf das Meer hinaus und beide wollen ihre Freiheit von ihrer alten Lebensweise.

Und hier kommen wir zu der ersten Feststellung: Helden sind, was sie (haben) wollen.
Es ist (erstmal) nicht wirklich wichtig wer sie sind, sondern der Fokus liegt auf ihren Zielen, ihren Träumen und ihren Wünschen und das macht sie so menschlich.

Der „I am“-Song

Der „I am“-Song ist das Lied des Antagonisten eines Musicals, in dem der Antagonist beschreibt, wer er ist. Dabei geht er nicht auf seine Wünsche, Träume oder Ziele ein, sondern er erzählt den Zuschauenden nur, wen sie gerade vor sich haben. Denke an das Lied „Gaston“ aus Die Schöne und das Biest oder „Glänzend“ (engl. Shiny) aus Moana/Vaiana.

Hier kommen wir zu der zweiten wichtigen Feststellung: Antagonisten wollen, was sie sind.
Es ist nicht notwendig ihre Wünsche und Ziele näher zu erforschen, weil es genügt zu wissen, wer sie sind, um zu verstehen, warum sie dem Protagonisten gegenüberstehen. So ist es auch einfacher für die Zuschauenden, sich (unterbewusst) von dem Antagonisten zu distanzieren oder gar nicht erst emotional zu nähern.

Wie lassen sich „I want“-Songs und „I am“-Songs auf das Schreiben übertragen?

Das ist eigentlich gar nicht so schwierig: Lass deine Protagonisten deutlich sagen/zeigen, was sie wollen und was ihre Ziele und Motivationen sind und das am Besten früh in der Geschichte. (Das wäre das Äquivalent zu dem „I want“-Song.) So stellst du sicher, dass deine Lesenden von Anfang an wissen, wen sie vor sich haben und warum diese Person so handelt, wie sie es tut. Bonuspunkte – aus Sicht der Nachvollziehbarkeit – wenn die Motivation ein Gefühl ist, das jeder schon einmal gefühlt hat.
Deinen Antagonisten hingegen kannst du mehr Zeit geben, bevor du sie vorstellst. Dann bei ihrer Vorstellung konzentriere sich auf ihre Persönlichkeit und nicht auf ihre Ziele und Motivationen. Das heißt allerdings nicht, dass die Antagonisten keine Motivationen und Ziele haben (sollen)! Tatsächlich finde ich es sehr wichtig, dass deine Antagonisten gute und starke Motivationen haben, damit sie eine runde Figure ergeben. Allerdings ist es nicht notwendig, diese Ziele auszuformulieren.

Können deine Antagonisten einen „I want“-Song haben?

Ja, auf jeden Fall! Aber die meisten Antagonisten mit einem „I want“-Song sind moralisch grau und nicht mehr böse. Ein „I want“-Song eines Antagonisten führt zu einer (moralisch) komplexeren Geschichte. Das ist im ersten Moment weder gut noch schlecht, sondern nur eine Entscheidung, die du treffen musst, die maßgeblich den Lauf deiner Geschichte verändern wird.
Anders herum: Wenn du einen moralisch grauen Protagonisten haben möchtest, mache seine Vorstellung zu einem „I am“-Song.

Tatsächlich gibt dir diese Musical-Herangehensweise die Werkzeuge, um mit dem Aufbau deiner Geschichte auf Arten und Weise zu spielen, die du vorher vielleicht noch nicht bedacht hast. Was würde passieren, wenn du am Anfang deinen Antagonisten mit dem Schreibäquivalent des „I want“-Songs vorstellst und später den Helden mit einem „I am“- Song? Wie verändert es die Geschichte und die Wahrnehmung der Figuren? Und sowieso, warum sollte der „I want“-Song zuerst kommen? Warum nicht einfach mal den Antagonisten mit seinem „I am“-Song zuerst vorstelllen? Was verändert sich in der Struktur deiner Geschichte? Oder welchen Effekt hätte es, wenn der Protagonist mit einem „I want“-Song anfängt und, je weiter die Geschichte fortschreitet, immer mehr „I am“-Songs bekommt? Wie verändert sich die Wahrnehmung in den Augen der Lesenden?
Ich finde diese Fragen und Spielereien außerordentlich interessant.

Noch ein Wort zu Hamilton (kleine Spoiler)

Das Musical Hamilton ist in vielerlei Hinsicht revolutionär und genial und ich würde jedem von Herzen empfehlen, es sich anzusehen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. (Es ist auf Disney+, falls du es suchst.) Aber auch im Hinblick auf seine „I want“- und „I am“- Songs ist es genial.
Denn auch wenn das oben genannte Lied „My Shot“ eigentlich Hamiltons „I want“-Song ist oder sein sollte, geht es kaum auf Hamiltons Ziele ein. Tatsächlich sagt Hamilton kaum etwas Spezifisches über seine Ziele, außer dass er seine Chance ergreifen will, etwas zu verändern:

I am not throwing away my shot!
I am not throwing away my shot!

Hey yo, I’m just like my country
I’m young, scrappy and hungry

Seine Freunde hingegen, sagen deutlich, was sie wollen:

I dream of life without a monarchy

oder

I’m joining the rebellion ‚cause I know it’s my chance
To socially advance, instead of sewin‘ some pants!

oder

You and I. Do or die. Wait till I sally in
On a stallion with the first
black battalion

In diesem Sinne ist Hamiltons Teil des Liedes näher an einem „I am“-Song als an einem „I want“-Song, was auch hervorragend passt, weil Hamilton ein sehr moralisch grauer Protagonist ist. Aber zurück zu dem eigentlichen Artikel.

Zum Abschluss

Eigentlich geht es mir in diesem Artikel um Folgendes: Denke darüber nach, welche Motivationen oder Eigenschaften deine Figuren menschlicher und sympathischer machen und warum das so ist. In einem (guten) Musical sind diese Eigenschaften einfacher zu identifizieren, da die emotionalen Teile der Geschichte stets gesungen werden und einem so genau gesagt wird, was wichtig ist und was nicht. In einem Buch ist das anders. Erst im Nachhinein können deine Lesenden sagen, was die wichtigen Punkte der Charakterentwicklung und der Geschichte waren, und selbst dabei können sich die Lesenden uneinig sein. Was dem Einen auffällt, kann der Nächste gar nicht wahrgenommen haben.
Deswegen ist es wichtig, sich bei der Darstellung der Figuren einen Plan zu überlegen, um sie konsequent darzustellen (oder ihre Darstellung auf konsequente Art und Weise zu verwenden). Und warum nicht über den eigenen Tellerrand schauen und analysieren, wie andere Medien an dieselben Probleme herangehen?


Wie findest du die Idee mit dem „I want“-Song und dem „I am“-Song? Machst du so etwas Ähnliches schon oder hättest Lust es auszuprobieren?

Übrigens: Ich hab auch einen Artikel darüber, was du aus Kurzgeschichten lernen kannst.

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4 Replies to “Was du beim Schreiben von Musicals lernen kannst”

  1. Adrian says:

    Ein interessanter Beitrag, ich habe mich bisher kaum (und nur passiv) mit Musicals auseinandergesetzt, aber ab jetzt werde ich das wohl nie mehr übersehen können.

    Antworten
    1. Sina Bennhardt says:

      Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir dafür entschuldigen muss oder du das gut findest 😀

      Antworten

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