Einen Shitstorm verstehen

Das Konzept des „Shitstorms“ beschäftigt mich schon länger und ich habe endlich die Zeit gefunden, ein paar Gedanken dazu aufzuschreiben. Ich möchte beleuchten, wie ein Shitstorm entsteht und was dabei auf beiden Seiten passieren kann.

[Ein Hinweis, bevor ich beginne: Ich beziehe mich in diesem Artikel auf keinen bestimmten Shitstorm und auf keine bestimmte Person. Es ist auf Twitter nur unvermeidbar, dass man früher oder später einen Shitstorm mitbekommt und deswegen schiebe ich diese Gedanken schon eine Weile mit mir herum.]

Ein paar Definitionen

Wie so häufig, wenn ich mit einem Thema beginne, das ein wenig entfernt von den eigentlichen Themen dieses Blogs steht, möchte ich mit ein paar Definitionen beginnen. So möchte ich sichergehen, dass jede:r genau versteht, wovon ich rede. Wenn du die Begriffe schon kennst, kannst du sie natürlich überspringen.

Shitstorm

= „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“ (Duden); das Wort Shitstorm soll für diesen Artikel als wertungsfrei betrachtet werden

Non-Mention (auch: Nonmention)

„Eine Nonmention ist, wenn man jemanden [auf Twitter] erwähnt bzw. meint, aber ohne Twitterhandle. So kann man erstens nicht direkt sehen, wer gemeint ist und zweitens bekommt die oder der Gemeinte auch keine hilfreiche Nachricht von Twitter, in der […] darauf aufmerksam gemacht wird, das irgendjemand irgendwas über oder für [sie/]ihn geschrieben hat.“(Quelle)

Ismus (Pl. Ismen)

= „bloße Theorie, eine von den vielen auf …ismus endenden Richtungen in Wissenschaft, Kunst o. Ä., von Lehrmeinungen und Systemen“ (Duden); spezieller benutze ich dieses Wort hier für diskriminierendes und/oder menschenfeindliches Gedankengut z.B. Rassismus, Abelismus und Ähnliches; kann auch als Adjektiv (Jemand ist istisch) oder als Personenbezeichnung (Jemand ist ein Ist) verwendet werden; zur Verdeutlichung auch manchmal „-Ismus“, „-istisch“ und „-Ist“ geschrieben.

Tone Policing

= eine Argumentationstaktitk, in der dem Gegenüber Emotionalität vorgeworfen wird, um die Argumente zu entkräften (selbst übersetzt von Dicitionary.com)

Der Shitstorm, analysiert

Auch wenn sich jeder Shitstorm von dem anderen unterscheidet, haben sie doch eine gewisse Ähnlichkeit untereinander. Allgemein lassen sie sich in fünf Schritte einteilen. Dabei folgt die Intensität der Situation in etwa einer umgekehrten Parabel. Soll heißen: Schritt 1 und 5 haben eine niedrige Intensität und Schritt 3 die höchste. Wie hoch die Kurve ausschlägt und wie lang jeder einzelne Schritt anhält, kann sich aber stark unterscheiden.

Schritt 0: Die Ausgangssituation

Jeder Twitter-Mensch hat seine Bubble, seine Reichweite. Auch wenn sich die eigentlichen Followerzahlen täglich ändern (können), ist man an die ungefähre Größe der eigenen Reichweite gewöhnt. Man weiß ungefähr, wie viele Herzen, Antworten oder Retweets eine Aussage bekommt und auch wenn man manchmal an den Grenzen der Bubble kratzt, bleibt man doch zumindest thematisch meist beim bekannten Publikum. Es ist wichtig diese Gewohnheit und Normalität am Anfang zu verstehen. Denn jeder Twitter-Mensch hat sich darauf eingestellt, wie viel Kraft und Aufwand mit dem Instandhalten eines Twitter-Accounts verbunden ist. Und diese Dinge ändern sich mit einem Shitstorm drastisch.

Schritt 1: Der Auslöser

Die Person setzt einen verletzenden oder einfach falschen Tweet ab, der meist – und hier ist es erstmal egal ob beabsichtigt oder nicht – Ismen reproduziert.

Schritt 2: Der Beginn des Shitstorms

Der Tweet bekommt in der eigenen Bubble mehr Aufmerksamkeit als ein normaler Tweet. Es wird viel geantwortet und geteilt, aber wenig geliked. Die Antwortenden werden selten ausfallend, weil eine gewisse Vertrautheit in der eigenen Bubble besteht, auch wenn man sich nicht persönlich kennt. Trotzdem erreicht der Tweet verhältnismäßig schnell die Grenzen der normalen Reichweite. Die auslösende Person bekommt diesen Schritt häufig entweder nicht mit – weil Handy weggelegt – oder ist so damit beschäftigt, den unverhältnismäßig vielen Kommentaren zu antworten, dass sie gar nicht merkt, was passiert.

Der Beginn eines Shitstorms kann wenige Minuten bis mehrere Stunden dauern und der Übergang zum nächsten Schritt ist fließend.

Schritt 3: Der tatsächliche Shitstorm

Meistens durch den Retweet einer Person, die eine große Reichweite (außerhalb der eigenen Bubble) hat, gelangt der Tweet an ein neues Publikum, das die auslösende Person nicht kennt. Die Menge an Kommentaren nimmt rasant zu und auch der Ton verändert sich. Die Mehrheit bleibt freundlich aber deutlich (eine Minderheit mag dem Tweet vielleicht sogar zustimmen), aber jetzt gesellen sich Stimmen dazu, die – egal von der ursprünglichen Intention des Tweets – Intention, Motiv und auch den Charakter der auslösenden Person bewerten und verurteilen. Durch die Menge der Kommentare vergrößert sich die Reichweite des Tweets. Mehr Leute sehen ihn. Mehr Leute kommentieren. Ein Teufelskreis.

Außerdem beginnen die Kommentare, sich zu wiederholen. Es werden Forderungen ausgesprochen. Nach einer Stellungnahme, einer Entschuldigung oder mindestens einer Antwort. Am lautesten ist oft die Forderung, adäquat zu reagieren.
Das alles während die auslösende Person mit einer Situation konfrontiert ist, die sich komplett neu, ungeplant, unerwartet, stressig und möglicheweise auch bedrohlich anfühlt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Person komplett überfordert ist, versucht sich zu rechtfertigen oder vielleicht selbst aggressiv wird. An dieser Stelle wird der Tweet oft gelöscht und/oder eine Entschuldigung formuliert. Aber dazu später mehr.

Schritt 4: Fortführung der Debatte in Non-Mentions

Auch wenn der Tweet verschwunden sein sollte, geht der Shitstorm weiter. Oft wird die Situation genutzt, um andere Menschen, die von dem Shitstorm nichts mitbekommen haben, in Non-Mentions über das Passierte zu informieren. Es wird deutlich erklärt, warum der Tweet verwerflich war. Und weil das Thema des ursprünglichen Tweets durch den Shitstorm gerade präsent ist, werden auch diese Non-Mentions viel geteilt und verbreitet.
Dass sie dabei auch in die Timeline der auslösenden Person landen, ist unvermeidbar. Unvermeidbar ist auch, dass die auslösende Person an dieser Stelle ein gewisses Maß an Frustration oder Wut fühlt, besonders wenn sie ihren Fehler schon eingesehen und sich (ernsthaft) entschuldigt hat. Denn den eigenen Fehler deutlich, unmissverständlich, immer wieder und vor allem öffentlich vor Augen geführt zu bekommen, geht sehr schnell an das eigene Selbstwertgefühl. (Das ist keine Entschuldigung für Fehlverhalten an diesem Punkt, nur eine Erklärung.)

Schritt 5: Ende des Shitstorms (?)

Ein wirkliches definitives Ende gibt es bei einem Shitstorm selten. Irgendwann werden die Kommentare weniger, es wird weniger geteilt und somit ist die „aktive“ Phase des Shotstorms beendet. Wo auslösende Person und die Kommentierenden emotional stehen, kann sehr unterschiedlich sein und hängt hauptsächlich von der initialen Reaktion der auslösenden Person ab.
Spätestens an dieser Stelle wird meist eine Stellungnahme formuliert.

Intention und Schuld

Was mich im Zusammenhang eines Shitstorms oft am meisten beschäftigt, ist die Frage nach der Intention und der Schuld. Denn was ich leider immer wieder lese, ist, dass die Intention egal ist. Wer z.B. einen Ismus verbreitet – auch wenn es unabsichtlich war – ist ein Ist. Und das finde ich einfach nur falsch.

„Gut gemeint ≠ gut gemacht.“

Das stimmt 100%ig. Aber die Intention lässt die Tür offen für eine mögliche Entschuldigung und Wiedergutmachung. Natürlich macht die Intention das Gesagte nicht ungeschehen und ob die Entschuldigung angenommen wird/werden sollte, ist eine ganz andere Frage.
Eine einzelne istische Aussage macht eine Person aber nicht zu einem Ist. Eine istische Aussage macht aus der Person nur jemanden, der eine istische Aussage getroffen hat – und damit trotzdem verantwortlich dafür, was diese Aussage ausgelöst hat – aber erstmal nicht mehr. Um ein Ist zu sein, braucht es Absicht, Wiederholung, Gewohnheit, mangelnde Schuldgefühle und oft ein nicht geringes Maß an Menschenverachtung. Und das nach einer einzelnen Aussage zu unterstellen, ist gefährlich.

Die Anatomie einer guten Entschuldigung

Weil ich von mir selbst weiß, dass ich erst spät gelernt habe, mich richtig zu entschuldigen, möchte ich einmal kurz die Bestandteile einer guten Entschuldigung aufzählen. Sich dieser Bestandteile bewusst zu sein, kann helfen zu verstehen und zu formulieren, warum eine (bestimmte) Entschuldigung nicht funktioniert oder sich falsch anfühlt.

  1. Das Wichtigste: Die Entschuldigung muss ernst gemeint sein. Wenn das schon nicht zutrifft, ist die ganze Entschuldigung wertlos.
  2. Die Person bekennt sich zu ihrem Fehler und benennt genau, was sie falsch gemacht hat. Das Warum muss (und sollte) nicht allzu ausführlich sein. Denn wenn man zu viel Zeit damit verbringt, das Warum zu klären, fühlt es sich eher an, als würde man nach Ausreden suchen. Die Person hat einen Fehler gemacht, der Grund ist erstmal zweitrangig.
  3. Die Person entschuldigt sich. Und das ohne die Schuld auf die Reagierenden abzuwälzen.
  4. Optional, aber hilfreich: Die Person benennt genau, was sie gelernt hat und wie sie sich in Zukunft ändern wird. Zu zeigen, dass man die Entschuldigung ernst meint und das Verhalten dauerhaft zu ändern, ist das Überzeugenste an einer Entschuldigung.

Außerdem ist eine gute Grundregel: Wenn man jemanden öffentlich verletzt hat, dann sollte man sich öffentlich entschuldigen. Hat man jemanden unter vier Augen verletzt, sollte auch die Entschuldigung unter vier Augen geschehen. Ist es also auf Twitter geschehen, sollte man sich auch auf Twitter entschuldigen.

Die Reichweite der Entschuldigung

Das Problem, das bei einer Entschuldigung im Internet oft eintrifft, ist die Reichweite. Es passiert seltenst, dass eine Entschuldigung dieselben Menschen erreicht, wie der Ursprungstweet und das kann für beide Seiten frustrierend sein.
Für die Person, die sich entschuldigt, bleibt ein Schuldgefühl und (leider) manchmal Menschen, die wiederholt eine Entschuldigung fordern, die schon längst gemacht wurde. Für die Betroffenen bleibt der Frust und das Unverständnis, warum sich die auslösende Person nicht zu den Fehlern bekennt.

Von der anderen Seite

Auch wenn ich bisher hauptsächlich aus der Sicht der auslösenden Person geschrieben habe, möchte ich – wenn auch nur kurz – von der anderen Seite schreiben. Denn von außen nimmt der Shitstorm eine ganz andere Form an. Die Kommentierenden wollen meistens helfen oder informieren und das ist – solange sie nicht absichtlich beleidigen und/oder drohen – sehr bewundernswert. Es wird gerne unterschätzt wie viel (emotionale) Arbeit darin steckt, andere Menschen zu informieren.
Nur um dann abgestempelt zu werden und zu hören, dass man das ja auch „hätte freundlicher sagen können“ oder dass es „effektiver wäre, wenn man nicht so rumschreien würde“. Tone Policing vom Feinsten.

Wie viele problematische Tweets muss man (als Betroffene:r oder Aktivist:in) täglich aushalten, bevor man die Geduld verlieren „darf“? Wen und wie viel muss man informieren, bis es endlich bei der Mehrheit angekommen ist? Wie viel emotionale Arbeit muss man aufbringen, bevor es die Menschen endlich lernen? Und dann sagen sie einem noch, wie man es zu sagen hat?
Es ist nur natürlich, dass sich Frustration aufbaut, wenn man tagtäglich gegen einen Sturm arbeitet und es trotzdem immer jemanden geben wird, der es noch nicht gehört hat. Da ist es nur logisch, dass man lauter, deutlicher und auch gegenüber kleineren Fehlern intoleranter wird. (Und das ist – das möchte ich sehr betonen – kein Vorwurf, sondern eine sehr natürliche Entwicklung.)

Fazit?

Letztendlich läuft es für mich auf eine Sache hinaus: Ein Shitstorm ist für beide Seiten stressig und eher schädlich als hilfreich. Die auslösende Person wird ihren Fehler entweder einsehen oder nicht, da macht die Menge der Kommentare selten einen Unterschied. Tatsächlich können „zu viele“ – als sehr subjektive Zahl – Kommentare eher dazu führen, dass sich die Person vollkommen vor Kritik verschließt, um das Gefühl des Selbst zu erhalten.
Gleichzeitig ist ein Shitstorm für die Kommentierenden wahnsinnig viel emotionale Arbeit (weil man wieder und wieder über dasselbe informieren muss), kann je nach Thematik retraumatisieren und hat eher selten den gewünschten Effekt bei der auslösenden Person. Man hat also wieder das Gefühl gegen eine Wand zu reden, was zu mehr Frust führt.

Die Lösung? Habe ich natürlich nicht. Am besten wäre es, wenn ein Shitstorm gar nicht nötig wäre, weil Menschen ausreichend informiert sind, aber das ist grundsätzlich unrealistisch. So können wir uns nur weiter informieren, Betroffenen zuhören, verstehen, beim Informieren Anderer helfen und versuchen niemanden zu verletzen.


 

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3 Replies to “Einen Shitstorm verstehen”

  1. Nadine says:

    Ein ganz toller Beitrag! Habe mich in allen Schritten der Entwicklung wiedergefunden, wie du weißt, hatte ich selbst meinen eigenen Shistorm. Mir hat es gezeigt, mich zu gewissen Themen nicht mehr zu äußern, zu sehr vor der Sorge, dass dabei was falsches ist. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das der richtige Weg ist. Eine gute Bloggerin hat ein Wort in einem Beitrag falsch verwendet und dann wurde direkt auf sie drauf gehauen. Ich weiß, man soll sich Informieren, nur selbst bei der besten Informationsrecherche können Fehler passieren. Wiederum kann ich Betroffene auch verstehen, wenn es ihnen wiederholt begegnet, die Toleranz gegen unbedachte Fehler steigt.

    Was ich gut finde, das du geschrieben hast, das nicht ein Fehler direkt zeigt das eine Person auch so ist, ich finde, dass man Unterscheiden muss, ob es einmal passiert, keine Einsicht gezeigt wird, und es wiederholt passiert oder ob es eine einmalige Sache war, aus der gelernt wurde. Ich finde, dass dies gerne vergessen wird. Oder auch, dass hinter jedem Bildschirm ein Mensch mit Gefühlen sitz.

    Sehe auch Non Mention als problematisch an und darüber hatte ich mich damals aufgeregt. Ich glaube, dass das wichtige ist, ist Abstand. Auch wenn es einem als „Täter“ abgesprochen wird, ist es aber am besten, erst einmal nichts zu schreiben, es laufen zu lassen und wenn mich selbst abgekühlt hat, darauf zu reagieren. Das wäre ne Sache, die ich anders gemacht hätte. Mit Abstand fällt einen auf, dass es nicht ganz so tragisch ist, wie es am Anfang aussah, dass die Mehrheit freundlich war, nur leider bleiben als Erstes die 10 anderen Prozent im Kopf. Und das ist das schwierige an einem Shitstorm, das die auslösende Person sich nicht als Schutz des eigenen Selbst vor der Kritik eine Mauer baut, weil dadurch ein Lernprozess genommen wird.

    Habe zu meinem eigenen auch nochmal einen Blogbeitrag verfasst, zum einem, um zu sagen, was ich gelernt habe, aber auch auf Non Mention und Unterstellungen einzugehen. Bei sowas ist auch wichtig, von einer anderen Person drüber zu lesen, da man selbst sehr emotional belasten ist. Geteilt habe ich ihn aber nur auf Instagram, nicht auf Twitter, obwohl ich dran überlegt habe, aber ich wollte meine Psyche schützen. Überrascht war für mich, dass gar nicht viele Follower verloren, sondern auch welche gewonnen habe und das Leute, die Kritik geäußert haben, dennoch weiterhin mir folgen und mit mir wie zu vor interagieren. Daher ist es nicht immer so Schwarz wie es am Anfang aussieht, nur sieht es durch die plötzliche große negative Resonanz, die man im Vorfeld nicht kennt so aus.

    Eigentlich wollte ich nur ein paar Worte da lassen, jetzt wurde es doch ein halber Roman… Sorry für den Gedankenchaos.

    Dir nochmal danke 🙂

    Alles Liebe

    Nadine

    Antworten
    1. Sina Bennhardt says:

      Danke schön für deinen superlangen und ausführlichen Kommentar. <3

      Du hast Recht, auf der empfangenden Seite des Shitstorms fühlt man diese 10%, die unfair werden (können), leider besonders empfindlich. Vor allem, wenn man niemanden verletzen wollte. Ich bin froh, dass du deinem Shitstorm etwas Positives abgewinnen konntest! Lass dich nicht unterkriegen 🙂

      Antworten

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