Auch wenn die Schöpfungsgeschichte der Welt in den meisten Geschichten nicht direkt relevant ist, so halte ich sie doch für eine gute Möglichkeit für dich, den Kern deiner Götter näher herauszuarbeiten. So kannst du überprüfen, ob deine Ideen gut zusammenpassen oder ob sich Widersprüche ergeben, die du nicht erwartet hast. Allgemein ist es einfach eine gute Fingerübung, sich an der Schöpfungsgeschichte deiner Welt zu versuchen.
Was ist eine Schöpfungsgeschichte?
Eine Schöpfungsgeschichte is eine „Geschichte, in der die Entstehung der Welt beschrieben wird“ (Duden). Diese Definition möchte ich für meine Zwecke ein wenig erweitern. Wenn ich von einer Schöpfungsgeschichte spreche, meine ich damit die Entstehung der Götter, der Welt und der Menschen, die sie bevölkern. Diese Erweiterung halte ich für sinnvoll, weil sie in den meisten Schöpfungsgeschichten (hier noch Dudendefinition) sowieso enthalten oder mindestens eng verwoben ist.
Ich rate dir, deine eigene Recherche zu machen und Schöpfungsgeschichten aus aller Welt zu finden und zu lesen. Sie sind unglaublich unterhaltsam, kreativ und unterschiedlich und doch in vielen Punkten durchaus ähnlich. Einige meiner persönlichen Highlights werde ich hier in Beispielen aufgreifen.
Der Anfangspunkt
Auch eine Schöpfungsgeschichte muss irgendwo anfangen. Und das tut sie oft im Nichts oder in minimaler Umgebung. Das heißt, dass es vielleicht schon die Erde gibt, aber sie ist unbewohnbar. Oder es gibt nur eine Sonne und den Himmel, die gleichzeitig auch Götter sind und die dann aus Gründen – es wird meistens gar nicht erklärt warum oder es wird gesagt aus Langeweile – die Welt und die Menschen schaffen.
Gerade am Anfang ist es wichtig, dass du dich nicht zu sehr von unserem modernen Verständnis der Welt beeinflussen lässt. Der Reiz von Schöpfungsgeschichten ist, dass sie auf eine ganz eigene Art die Entstehung der Welt beschreiben. Dass sie dabei – nach unserem Verständnis – vollkommen unlogisch sind, macht sie im Kontext deiner Welt deutlich glaubhafter.
Wie wäre es mit einem Gott, der das Meer erschafft, aber es bleibt nicht an seinem Platz und fließt immer wieder davon. Also formt er webt er aus dem Wasser den Himmel, der das Meer wie eine Glocke überspannt. Das ergibt zwar keinen Sinn, gibt aber viel Aufschluss über die Welt, in der sich der Leser befindet.
Entstehung der Götter
Falls die Götter beim Anfangspunkt noch nicht dabei waren, dann entstehen sie meistens aus dem Nichts, dem Dunkel oder etwas anderem, das in der Religion als ewig und unabänderlich angesehen wird. Zum Beispiel die Erde, die Luft, die Sonne oder die Sterne.
In einer polytheistischen Religion ist der/die Anführer:in meist von Anfang an dabei und aus diesem Gott entstehen dann die weiteren. Verbreitete Ursprünge sind hier die Kraft der Gedanken, Träume, Körperflüssigkeiten wie Blut oder Speichel und wie bei Menschen auch Sex und schließlich Geburt. Seltener – und meist den Menschen vorbehalten – ist die Formung aus Erde, Stein oder Lehm.
Verwendung religions-/gesellschafts- und kulturwichtiger Symbolik
Die Entstehungsgeschichte ist eine wunderbare Gelegenheit religions-, gesellschafts- und kulturwichtige Symbole zu benutzen und sie somit fest in der Kultur zu verankern. Habe hier keine Angst davor sehr spezifisch zu werden und explizit spezielle Tiere, Pflanzen, Zahlen, Symbole oder auch handwerkliche Gegenstände zu nennen und zu verwenden. Als Beispiel:
In der Yoruba-Schöpfungsgeschichte beschließt ein Gott namens Obatala Land zu schaffen. Dafür soll er sehr explizit eine Goldkette, ein mit Sand gefülltes Schneckenhaus, eine weiße Henne, eine schwarze Katze und die Nuss einer Palme benutzt haben. Mit der Goldkette klettert er vom Himmel herab, bis er das Meer erreicht. Dann gießt er den Sand aus dem Schneckenhaus und lässt die Henne herunterfliegen. Diese landet auf dem Sand und fängt sofort an zu picken und zu scharren. So verteilt sie den Sand und es entstehen Berge und Täler. Obatala pflanzt dann die Nuss ein und so entstehen Palmenwälder. Die Katze hat er anscheinend nur als „Haustier“ mitgenommen, denn ich habe keine Geschichte gefunden, in der sie tatsächlich etwas tut. Auch Fragen wie Warum ist die Kette aus Gold? und Warum ist die Henne weiß und die Katze schwarz? werden in der Geschichte nicht beantwortet. Solche offenen Fragen können aber indirekt über die Kultur oder auch Sprichwörter beantwortet werden und geben deiner Religion und Kultur weitere Tiefe.
Entstehung der Menschheit
Wenn es an die Erschaffung der Menschheit geht, gibt es auch wiederkehrende Bilder. Die Entstehung aus Lehm, Erde, Stein oder Sand. Das Einhauchen des Lebens durch den Atem der Götter. Und auch mehrere „Versionen“ der Menschheit bzw. die zeitweise Auslöschung und Neuschöpfung der Menschheit durch die Götter. Oft verbunden mit der Entstehung der Menschheit sind auch Machtkämpfe unter den Göttern, wer am meisten Ansehen von den Menschen bekommt.
Um zurück zu meiner Lieblingsschöpfungsgeschichte zu kommen – der Yoruba-Schöpfungsgeschichte: Nachdem Obatala das Land erschaffen hat, betrinkt er sich mit Palmenwein und formt dabei die Menschen aus Lehm. Ein anderer Gott haucht ihnen Leben ein uns Obatala schläft betrunken ein. Am nächsten Morgen wacht Obtala auf und muss entsetzt feststellen, dass die Menschen alle hässlich und entstellt geworden sind. Er formt neue Menschen und wird zum Schutzpatron der Menschheit, vor allem der Missgebildeten, und schwört nie wieder zu trinken.
Du siehst also: In der Schöpfungsgeschichte die Persönlichkeiten und Aufgaben der Götter zu betonen, ist möglich und sinnvoll.
Für eine weitere Schöpfungsgeschichte, die im Grunde fünfmal die Erschaffung der Menschheit beinhaltet, muss man sich nur die Entstehungsgeschichte der Azteken anschauen. Ich habe im Bild ein Video von Overly Sarcastic Productions dazu verlinkt, nur ein kleines Wort der Warnung: Es ist auf Englisch und ziemlich schnell, aber eine super Quelle für Inspiration vor allem, was eine entwas „brutalere“ Kultur betreffen würde.
Die Wahrheit der Schöpfungsgeschichte
Am Ende bleibt nur noch die Frage, ob die Schöpfungsgeschichte tatsächlich der Wahrheit entspricht. Besonders wenn es viele Gottheiten und Religionen in deiner Welt gibt, wird jede den Anspruch an sich haben, dass sie die einzig richtige ist. Auch wenn der Leser nie erfahren sollte, welche davon am „richtigsten“ ist, solltest du dir darüber Gedanken gemacht haben.
Je nachdem wie viel Zeit du investieren möchtest, kann es sinnvoll sein, bestimmte Elemente in allen Schöpfungsgeschichten auftreten zu lassen und dem Leser somit Hinweise zu geben, was wirklich passiert ist. Vielleicht beginnt eine Entstehungsgeschichte mit einem endlosen Meer. In der nächsten ist eine gewaltige Flut Teil der Geschichte. In einer anderen Regen, der alle Täler unter Wasser gesetzt hat. So kannst du einen roten Faden – wie z.B. Überflutung – durch die Schöpfungsgeschichten bauen, auch wenn sie sich ansonsten voneinander unterscheiden.
Am Beispiel: Enda und Hefst
Die Entstehungsgeschichte der Welt nach Enda und Hefst: (Die Kurzversion)
Enda brachte das Ende der Dunkelheit und Hefst den Beginn der Sonne. Die Sonne schien herab auf das endlose Meer und die Zwillingsgöttinnen wussten, dass sie diese Respektlosigkeit nicht erlauben durften. Sie riefen die Vögel zu sich und versprachen, sie reich zu belohnen, wenn sie ihnen helfen würden, die Dreistigkeit des Meeres zu unterbinden. Die Vögel halfen gerne, denn sie hatten es satt nirgendwo landen zu können. Sie flogen so weit sie konnten und brachten Sand und Stein und daraus schufen die Zwillingsgöttinnen das Land, das das Meer endlich machen sollte. Die Pinguine waren besonders großzügig. Sie rissen sich die weißen Federn aus den Flügeln und daraus formten Enda und Hefst Eis und Schnee.
Die Zwillingsgöttinnen waren erfreut über die Gaben und sie belohnten die Vögel mit dem Wind, der sie tragen sollte, damit ihre Reisen sie nicht mehr so erschöpften. Den Pinguinen erlaubten sie für ihr Opfer auf dem heiligen Land zu leben.
Die Erschaffung der Menschheit ist ein wenig komplizierter und würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Vielleicht erzähle ich diese Geschichte ein anderes Mal.
Das nächste Mal werde ich dir etwas über nicht-menschliche Götter erzählen.