Der Gedanke Du musst gemein zu deinen Lesern sein ist zwar kein Tipp, den ich häufig lese, aber er kommt in einigen Abwandlungen bei verschiedensten Schreiberlingen zu Tage. Manchmal ist es tatsächlich als Tipp von einem Schreiberling zum Anderen gedacht. Viel öfter kommt er aber in der Bewertung des eigenen Geschriebenen vor. Dabei ist er entweder ein resigniertes „Ach, ich muss einfach noch ein bisschen fieser werden.“ oder am anderen Extrem ein freudiges „Muahaha! Ich werde meine Leser so sehr quälen.“
Was der Tipp bedeutet
Eine weitere Abwandlung dieses Satzes ist: „Du musst gemein zu deinen Figuren sein“. In seiner Umsetzung läuft er jedoch in beiden Fällen auf das Gleiche hinaus.
Unerfahrene Schreiberlinge machen schnell den Fehler, dass sie „zu nett“ zu ihren Figuren und damit indirekt auch dem Leser sind. Sie vermeiden Konflikt, weil sie ihre Figuren lieb gewonnen haben und natürlich nicht wollen, dass ihnen etwas Schlechtes passiert. Aber ohne Konflikt – der nunmal im Mittelpunkt einer Geschichte steht – wird keine ansprechende Geschichte entstehen. Der Tipp „Sei mal ein bisschen fieser!“ zielt genau auf diesen Fehler ab. Er ermutigt den frischen Schreiberling dazu, den Konflikt nicht zu scheuen.
So zumindest die Theorie.
Warum mir dieser Tipp nicht gefällt
„Du musst gemein zu deinen Lesern sein.“
Egal in welcher Variation dieser Gedanke ausgesprochen wird, er bringt bei mir ein ungutes Gefühl auf. Und das hat gleich mehrere Gründe. Bevor ich aber mit meinen Erklärungen anfange, möchte ich betonen, dass meine Kritik nicht wegen der Bedeutung des Satzes entstanden ist, sondern allein wegen seiner Formulierung. Das liegt hauptsächlich an drei Dingen:
1. Das Wort gemein/fies und seine Konnotationen.
„Gemein“ wird im Duden beschrieben mit moralisch schlecht, niederträchtig, unverschämt und in empörender Weise frech. „Fies“ hat ähnliche Beschreibungen mit unangenehm, widerlich, unsympathisch und abstoßend. Beide Wörter haben gemein, dass sie eine schlechte Intention unterstellen. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Konflikt in der Geschichte vorbereitet und ausgearbeitet ist oder einfach nur gemein und fies, und damit unfair. Diese Unterscheidung trifft dieser Tipp aber nicht. Ich würde eher dazu tendieren, ihn so zu interpretieren, dass man als Schreiberling „einfach nur gemein sein muss“, um eine gelungene Geschichte zu schreiben.
Ein guter Konflikt ist für die Figuren und – wenn die Leser emotional an die Figuren gebunden sind – auch für die Leser tragisch. Das ist aber weder fies noch gemein, sondern natürlich.
2. Autor vs. Leser – Ein Zusammenspiel oder ein Gegeneinander?
Niemand ist grundlos gemein. Um (absichtlich) gemein zu sein, muss man etwas gegen die entsprechende Person haben. Das bedeutet, um zu deinen Lesern und/oder Figuren gemein zu sein, musst du also etwas gegen sie haben. Und wenn du nicht aktiv etwas gegen sie hast, müssen sie in deinem Kopf aber mindestens in irgendeiner Form gegen dich sein.
Gerade in den letzten Jahren (und den letzten Staffeln Game of Thrones) ist der Gedanke von Autor gegen die Lesenden ins Scheinwerferlicht gerückt. Dass die Zuschauer bestimmte Wendungen der Geschichte vorhergesehen haben, wurde als etwas Negatives gewertet. Es war wichtiger das Publikum mit (sinnlosen) Plottwists zu überraschen. Diese Einstellung finde ich gefährlich, denn es bestraft die Aufmerksamkeit und Interaktion der Zuschauer mit der Geschichte.
Deine Interaktion mit den Lesern sollte eher ein Zusammenspiel als ein Gegeneinander sein. Du kannst von deinen Lesern lernen und sie von dir. Gemein zu sein – und sei es nur in der Geschichte – , zerstört dieses Vertrauen.
3. Was steht beim Schreiben eigentlich im Vordergrund?
Was sollen unsere Geschichten erreichen? Das unterscheidet sich natürlich von Geschichte zu Geschichte, aber in ihrem Kern sollen sie unterhalten. Unterhaltung selbst hat viele Facetten und kann vielfältig ausfallen, aber genau das ist ja das schöne an Geschichten. Gute Unterhaltung findet auf Augenhöhe statt. Wenn der Unterhaltende zu seinem Publikum aufschaut oder auf sie hinabblickt, entsteht ein Machtspiel, in dem der Unterhaltende entweder nach Bewunderung sucht oder sie einfordert.
Sobald der Gedanke des Gemein-seins in die Geschichte kommt, wechselt der Schreibende von der Augenhöhe in die Position eines Machthabendens, der seinem Publikum – den Lesenden – alles aufdrücken kann, was ihm gefällt. Egal wie gemein es ist.
Glaube ich wirklich, dass der Tipp falsch verstanden wird?
Nein, nicht wirklich.
Es ist auch mit wenig Erfahrung ziemlich offensichtlich, dass man ihn nicht undifferenziert für bare Münze nehmen sollte, aber darum geht es mir auch nicht. Worte haben Macht, das sollten wir als Schreiberlinge wissen. Auch wenn du weißt, was der Satz „Du musst gemein zu deinen Lesern sein“ bedeuten soll, kann es trotzdem passieren, dass du durch seine Wiederholung unbewusst beeinflusst wirst. Und wenn du erst einmal beginnst, deine Leser als eine Art von Gegnern wahrzunehmen, können deine Geschichten nur darunter leiden.
Ist es schlimm, wenn du diesen Tipp sagst oder ihn gegeben hast?
Auch hier ist meine Antwort ein deutliches Nein.
Gibt es bessere Alternativen?
Natürlich. Das Problem ist, je differenzierter man an ein Thema herangeht, desto länger werden die Tipps und desto schwieriger ist es, sie zu wiederholen. Und das wiederum macht ihre Verbreitung auf Plattformen wie Twitter, Instagram oder Facebook schwieriger. Ich bin davon überzeugt, dass Tipps wie Show, don’t Tell und Kill your darlings ihre Bekanntheit hauptsächlich erlangt haben, weil sie kurz und einprägsam sind. Aber das ist eine Diskussion für einen anderen Tag.
Was kannst du also stattdessen sagen?
„Keine Angst vor Konflikten (in deinen Geschichten).“ oder „Fordere deine Leser und Figuren.“ sind beides Optionen, aber wirklich einprägsam finde ich sie nicht. Eine gute Lösung habe ich offensichtlich noch nicht gefunden.
Was hältst du von dem Tipp „Sei gemein zu deinen Lesern“? Hast du ihn auch schon benutzt?