Wenn es an die Motivation und die Ziele deiner Figuren geht, kann man unendlich ins Detail gehen. Denn ähnlich wie die Menschen aus dem richtigen Leben, sollten auch deine Figuren auch vielschichtig und dreidimensional sein. Doch wie schaffst du es, dass sich deine Figuren anfühlen und verhalten, als wären sie echt? Ich habe mich an diese Frage gewagt und habe mir ein eigenes Modell gebaut. Das ESM-Modell.
Definitionen
In diesem Modell gehe ich davon aus, dass alle Aktionen deiner Figuren werden einer Mischung von drei Dingen getrieben werden: Emotion (E), Situation (S) und Motivation (M), daher auch der Name ESM-Modell. Zunächst einmal möchte ich diese Antriebe näher definieren.
Emotion
„Emotion“ ist direkt und vergänglich. Sie beschreibt die Impulsivität deiner Figur. Wie schnell lässt sie sich von Emotionen (ver)leiten und (ab)lenken? Es ist das Gefühl nach dem ersten Kuss, akuter Stress oder Frustration. Eben alles, was deine Figur für den Moment emotional ausfüllt, aber nicht von Dauer ist.
Motivation
„Motivation“ beschreibt wie zielgerichtet und entschlossen deine Figur ist. Sie ist die Grundeinstellung deiner Figur. Wie viel würde sie opfern, um ihr Ziel zu erreichen? Dazu gehören, wenn auch indirekt, die Gegenspieler und andere Hindernisse, die sich der Figur in den Weg stellen. Die Motivation ist in ihrem Kern statisch und kaum veränderbar.
Sie ist das Gegenstück zur Emotion.
Situation
„Situation“ bezieht sich auf den Kontext der Szene und beschreibt zusätzlich die soziale Intelligenz deiner Figur. Weiß sie, wie sie sich in Situationen mit anderen Menschen zu verhalten hat? Kümmert es sie überhaupt? Weiß sie die Meinungen anderer für sich zu manipulieren? Welchen sozialen Rang nimmt sie in der Szene ein und wie würde es ihr Verhalten verändern?
Außerdem solltest du bedenken: Soziale Intelligenz stellt in diesem Modell das Bindeglied zwischen Emotion und Motivation dar. Sie würde dabei helfen zu entscheiden, ob es angebrachter ist, sich von Emotionen oder der eigenen Motivation leiten zu lassen.
Wichtig zu wissen ist außerdem, dass sich Situation und Emotion über die Geschichte hinweg verändern können und werden. Sie helfen dir, die Figur von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten und geben dem Leser die Möglichkeit, sie besser kennen zu lernen. Die Motivation hingegen sollte relativ gleichbleibend sein. Sie sitzt an der Wurzel aller Entscheidungen, auch wenn sie nicht notwendigerweise ausschlaggebend ist.
Das ESM-Modell
Die spannendste Frage ist allerdings, welchen Stellenwert Emotion, Situation und Motivation in den Entscheidungen deiner Figur haben. Was bestimmt die Entscheidungen deiner Figuren? Das ist eine Frage, die nur individuell beantwortet werden kann. Trotzdem möchte ich dir für mein Modell eine kleine Anleitung geben, mit der du deine Figuren erweitern kannst. Das kann so aussehen:
Stell dir Emotion, Situation und Motivation in der Entscheidungsfindung deiner Figur wie drei Säulen vor, die die Entscheidungen deiner Figuren tragen. Bei jeder Figur gibt es eine vorherrschende Methode sich zu entscheiden und die anderen beiden sind untergeordnet.
Die beiden untergeordneten Methoden können gleichwertig sein oder eine kann etwas stärker ausgeprägt sein als die andere, wie das Bild verdeutlicht. Dabei möchte ich aber betonen: Die oben dargestellten Modelle sind nur Beispiele und die Ausprägung der untergeordneten Entscheidungsmethoden kann so stark oder schwach sein, wie es zu der Figur passt.
Um jetzt herauszufinden, wie deine Figuren reagieren, musst du dir vorstellen, es würde eine Linie über den Säulen liegen. Die Linie entspricht dem Verhalten einer Figur. Je höher die Linie liegt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die Figur auf diese Art und Weise verhalten würde.
Esm-Figur
Die dargestellte Esm-Figur würde sich in den meisten Situationen emotional entscheiden, bzw. sich gut durch emotionale Reize manipulieren lassen. Denke an die Person, die schnell die Nerven verliert, deren Emotionen oft Überhand gewinnen und der es deswegen schwer fällt, ihre Ziele (lies: Motivation) zu verfolgen. Wenn sie Hilfe leisten möchte, dann tut sie es auf emotionale Weise. Mit pragmatischen Entscheidungen kann sie wenig anfangen.
eSm-Figur
Die dargestellte eSm-Figur ist meiner Meinung nach die interessanteste. Auf den ersten Blick wirkt sie vollkommen ausgeglichen, weil ihre Linie auf ihrer sozialen Intelligenz „balanciert“. Sie weiß genau, wie sie sich in sozialen Situationen zu verhalten hat, wann sie forsch sein muss und wann sie nachgeben muss. Auf den ersten Blick wirkt sie extrem ausgeglichen, aber das ist auch ihr großer Nachteil. Weil sie sich so sehr darauf konzentriert, was „die Anderen“ von ihr wollen und erwarten, schiebt sie ihre Emotionen und Motivationen nach hinten. Nur ein kleiner Schubs genügt, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und sie wird nicht mehr wissen, was zu tun ist. Ihr größter Feind sind unerwartete Situationen und Reaktionen.
esM-Figur
Die dargestellte esM-Figur kann auf den Leser emotional kalt wirken. Es macht ihr nichts aus, was Andere von ihr denken oder fühlen. Das wichtigste ist, dass das Ziel umgesetzt wird, und dabei sind auch Kollateralschäden in Ordnung.
Das ESM-Modell hilft nicht nur bei Entscheidungen deiner Figuren
Wenn du für deine Figuren ein ESM-Modell malst, kannst du daran auch ablesen, wie sie sich (wahrscheinlich) in jeder beliebigen Situation entscheiden würden.
Das funktioniert wie folgt: Zuerst musst du identifizieren, ob die Szene, in der sie sich befinden, emotional, sozial oder mit ihrem persönlichem Ziel im Auge geschrieben ist. Dann gleichst du das mit dem ESM-Modell deiner Figur ab. Je deckungsgleicher die Linie ausfällt, desto „besser“ werden sich deine Figuren schlagen.
Wie du in dem Modell siehst, ist es im ersten Moment egal, wo die Stärken und Schwächen deiner Figur liegen, solange die Linie (= „das Verhalten“) stimmt. Eine Figur mit extremer sozialer Intelligenz wird sich, wie du im ersten Beispiel siehst, in einer hoch emotionalen und zielorientierten Szene gut schlagen.
Das ist auch logisch. Die eSm-Figur wird die Zeichen deuten wissen und auch wenn sie die emotionalen Aspekte der Szene sie nicht ergreifen werden, dennoch gut mit allem umzugehen wissen.
Anders sieht es im zweiten Beispiel aus. Eine sehr zielgerichtete Figur, wird in einer emotionalen Szene weder mit sich noch mit den anderen Figuren etwas anzufangen wissen. Ein Konflikt ist vorprogrammiert.
Du siehst also: Mit dem ESM-Modell kannst du schon im Voraus feststellen, in welchen Szenen das meiste Konfliktpotential liegt und auch welche Figuren gut miteinander klarkommen würden. Auch für die Figuren müsstest du nämlich nur ihre ESM-Modelle miteinander vergleichen. Hier kannst du dann entscheiden, ob es zu den Persönlichkeiten besser passen würde, dass sich ihre Unterschiede ausgleichen (und sie zusammen zu einer „besseren“ Person werden) oder ob ihre Gegensätze einander abstoßen würden.
Zum Abschluss
Das ESM-Modell hat bei mir ganz klein angefangen, bis ich festgestellt habe, wie vielfältig ich es in meinen Geschichten anwenden kann. Es bietet viele Möglichkeiten Szenen und Figuren zu vereinfachen, gibt aber gleichzeitig genug Raum, dass sich alle Figuren und Szenen individuell entwickeln können.
Zuletzt bleibt mir also meine Frage an dich: Findest du solche Modelle interessant? Dieser Beitrag hat nämlich extrem lange in seiner Konzeption und Umsetzung gedauert, aber gleichzeitig sehr viel Spaß gemacht. Ein Feedback würde mir an dieser Stelle sehr helfen, um zum einen das Konzept zu verbessern und auch zu wissen, ob dich solche Modelle überhaupt interessieren.
Wirst du das ESM-Modell ausprobieren? Erzähl mir doch wie es für dich funktioniert hat!
Also ich fand das ganze extrem spannend und sehr interessant, ich kannte das Modell auch noch nicht und zb meine Prota gehört dem zweiten Typ an. Deine Beiträge sind in der Regel immer sehr hilfreich, informativ und ich speichere sie mir immer ab, weil ich später beim plotten/schreiben usw. darauf zurückkommen will. Danke dir für deine Mühe! 🙂
Vielleicht denke ich mir dann demnächst mal noch mehr solcher Modelle aus 🙂
Denn mir hat das wirklich Spaß gemacht! ^^
Ich fand das Modell interessant und neuartig! Es hat mich gleich dazu verleitet, über meine Charaktere nachzudenken, und ob sie sich sinnig (nach dem Modell) verhalten. Ich mag diese abstrakte Idee, Linien zu ziehen und zu schauen inwieweit wer sich in welcher Art von Szene wohlfühlt/gut schlägt. Denke, ich werde das in Zukunft öfters anwenden.
Danke!
Das freut mich sehr, dass dich mein Modell zum Nachdenken gebracht hat! Hoffentlich kann es dir in Zukunft gute Dienste Erweisen 🙂
Ich kannte das Modell bisher nicht und fand es daher sehr spannend! Danke für diesen Input!
Liebe Grüße
Nadine