Der Protagonist in meiner neusten Geschichte bereitet mir Probleme. Er soll moralisch „gut“ sein. Geistig stark und schlau. Vielleicht körperlich nicht ganz auf der Höhe der anderen Figuren, aber dennoch fähig mitzuhalten. An diesem Punkt habe ich in der Entwicklung inne gehalten. Wäre das nicht zu perfekt? Kann sich der Leser mit so einer Figur überhaupt identifizieren? Wo sollen da noch die Konflikte herkommen? Ist das nicht nur die Erfüllung irgendeiner Fantasie?
Der Protagonist als Mary Sue und Gary Stu
So eine Figur wie oben beschrieben, erfüllt viele Voraussetzungen einer Mary Sue bzw. eines Gary Stu. (Für eine ausführliche Liste der Kennzeichen einer Mary Sue gibt es hier einen Link zu tvtropes.org.) Dennoch wollte ich mich nicht so schnell geschlagen geben. Seine Charaktereigenschaften waren durch seinen Hintergrund erklärt und (zumindest für mich) glaubwürdig ohne übertrieben zu sein. Außerdem war ich noch nicht bei seinen Schwächen angekommen.
Tatsächlich ist, was mich an einer Mary Sue stört, dass sie alle Probleme und Konflikte des Plots lösen kann, weil sie eine Mary Sue ist. Die Logik bleibt dabei zweitrangig. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass ich Figuren entwerfen kann, die „besser“ oder stärker oder schlauer oder alles gleichzeitig sein können, solange sie sich an die interne Logik meiner Welt halten.
Wie schreibst du also fesselnde Geschichten mit (nahezu) perfekten Figuren?
Methode 1: Kampf gegen Unrecht
Du gibst ihnen ein Problem, das sie nicht alleine lösen können. Hier bieten sich Kriege, Hungersnöte oder soziale Probleme wie Diskriminierung an. Denn egal wie genial dein Protagonist ist, alleine wird er es nicht schaffen, die Situation zu verändern. Das heißt nicht, dass er es nicht trotzdem versuchen kann.
Er könnte sich als eine Inspiration für andere herausarbeiten und versuchen mit schillerndem Beispiel voranzuschreiten. Oder er könnte – für eine dramatischere Geschichte – trotz all seiner Fähigkeiten scheitern.
Gerade bei dieser ersten Methode ist von dir als Schreiberling allerdings sehr viel Fingerspitzengefühl angesagt. Vor allem wenn es an soziale Themen wie Diskriminierung, Rassissmus oder Ähnliches geht, ist es nur allzu leicht in Klischees zu verfallen oder in eine White Savior Trope zu rutschen. Hier können dir Sensitivity Reader helfen, den Blick zu erweitern.
Und – aber das mag eine persönliche Vorliebe sein – oft lassen sich diese Art von Geschichten besser aus der Sicht einer Figur erzählen, die deine „perfekte“ Kreation erlebt/beobachtet. So kann man den „Gott-Status“ einfacher verteidigen (als Sichtweise des neuen Protagonisten) und weil die Gedanken der perfekten Figur geheim bleiben, kann der Leser auch nicht zu 100% wissen, was diese Figur eigentlich antreibt.
Methode 2: Ebenso perfekter Gegner
Wenn dein Protagonist beinahe perfekt ist, dann muss es der Antagonist auch sein. Am besten ist der Antagonist sogar noch ein bisschen perfekter als der Protagonist, denn schließlich soll er sich ja anstrengen müssen.
Zugegebenermaßen ist diese Methode meine unliebste, denn sie führt nur allzu schnell zu einem Muster, das man in diversen Action-Blockbustern zu spüren bekommt: Held und Antagonist prügeln aufeinander ein und es ist ein außergewöhnliches Spektakel und vielleicht sogar gut anzuschauen … aber die emotionale Bindung fehlt.
Die Leser/Zuschauer haben keine Angst um den Helden, weil sie wissen, wie perfekt und unzerstörbar er ist. Was also bleibt, ist ein Schauspiel, dem man vielleicht gerne zuschaut, aber es zeugt nicht von guter Charakterentwicklung oder interner Spannung.
*hust* großes Problem von Superman in den Zack Snyder Filmen *hust*
Um der kopflosen Prügelei entgegenzuwirken, kannst du versuchen, den Wettstreit zwischen Protagonist und Antagonist auf einen Mentalen zu fokussieren. Ähnlich wie es zwischen Sherlock Holmes und Moriarty geschieht. So schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe, denn wenn du deine Figuren zu einem geistigen Wettstreit zwingst, sind innere Konflikte und damit charakterlicher Tiefgang auch nicht mehr weit.
Methode 3: Zwischenmenschliche Geschichten
Diese Methode ist ähnlich zu meiner ersten Methode, aber auf deutlich kleinerer Skala. Während sich die Geschichten aus Methode 1 oft in die Richtung von der „Rettung der Welt“ wenden würden, geht es bei zwischenmenschlichen Geschichten um das – wer hätte es gedacht – Zwischenmenschliche.
Aber auch hier ist wichtig: Die Konflikte müssen stark genug sein, um deinen Protagonisten herauszufordern, aber gleichzeitig nicht zu sehr an den Haaren herbeigezogen.
Wenn dein Protagonist wirklich so „gut“ ist, ist es schwierig, dass jemand ein persönliches Problem mit ihm hat. Also muss sich der Konflikt um seine Mitmenschen drehen. Nichts trägt so schnell die eigenen Unsicherheiten nach außen wie ein Mensch in der Umgebung, der scheinbar perfekt ist.
Vielleicht hat das Kind des Protagonisten Probleme damit in seine Fußstapfen zu treten. Oder irgendjemand glaubt nicht, dass der Protagonist tatsächlich so herzensgut ist und versucht ihn aus der Reserve zu locken. Möglichkeiten gibt es viele.
Zusammenfassung
Auch bei einem „perfekten“ Protagonisten solltest du bei der Wahl deiner Konflikte so vorgehen, wie bei allen anderen Figuren auch. Nimm Konflikte, die dein Protagonist nicht alleine lösen kann. Nimm Konflikte, an denen er wachsen und sich verändern muss. Und diese Veränderungen müssen nicht immer zum Besseren sein. Dabei zuzusehen, wie ein Sinnbild von Moral und Gerechtigkeit korrumpiert wird, kann unglaublich herzzerreißend sein.
Denn wenn der Leser weiß, wie stark der Protagonist ist, ist sein Versagen umso tragischer.
Was hältst du von diesen nahezu perfekten Figuren? Findest du sie langweilig oder kommt es auf die Geschichte/Ausführung an?