Charakterentwicklung – Wie sieht das eigentlich aus?

Immer wenn ich mir Schreibtipps durchlese, wird von Charakterentwicklung gesprochen. Aber trotzdem habe ich selten eine gute Sammlung an handfesten Tipps dazu gefunden und das möchte ich ändern, indem ich selbst etwas dazu schreibe.

Was meine ich mit Charakterentwicklung?

Nur weil ich sehe, dass diese sprachliche Ungenauigkeit im deutschen Sprachraum Fuß gefasst hat, möchte ich einmal ganz deutlich sagen, was ich mit Charakterentwicklung meine.

Der Charakter ist die Persönlichkeit oder Einstellung einer Figur. Das „individuelle Gepräge eines Menschen, das durch ererbte und erworbene Eigenschaften, wie es in seinem Wollen und Handeln zum Ausdruck kommt“, wie es der Duden so schön formuliert ist. Die Charakterentwicklung ist also der Prozess, wie sich die Persönlichkeit einer Figur über das Buch hinweg verändert. Zwar ist der „Charakter“ mittlerweile als Synonym für das Wort „Figur“ in den Duden eingegangen, aber das möchte ich für diesen Artikel deutlich trennen.

Wenn ich Charakter schreibe, meine ich die Persönlichkeit und die Weltanschauung einer Figur.

Wenn ich Figur schreibe, meine ich die Person.

Die vier Schritte zur befriedigenden Charakterentwicklung

Bevor du mit der Planung deiner Charakterentwicklung beginnen kannst, musst du dir überlegen, wo die Hauptkonflikte deiner Geschichte liegen werden. Denn deine Figuren sollten sich an deinen Konflikten orientieren, damit möglichst dynamische Geschichten entstehen. Es funktioniert auch anders herum, falls du lieber mit deinen Figuren beginnst, dann solltest du deine Konflikte auf deine Figuren abstimmen.

Wichtig ist einfach nur: Deine Konflikte sollten deinen Figuren die Möglichkeit geben sich selbst herauszufordern und ihre Werte in Frage stellen.

Schritt 1: Zeige die Ausgangspositionen deiner Figur.

Hier legst du das Fundament für die spätere Entwicklung. Der Leser sollte möglichst schnell am Anfang der Geschichte erfahren, welche Werte deine Figur vertritt. Scheue dich nicht davor, deutlich zu werden und ihre Einstellung eindeutig zu demonstrieren.

Denk daran: Handlungen zählen mehr als Worte. Halte dich also an Show, don’t Tell und gib deinen Figuren ausreichend Möglichkeiten, ihre Meinungen zu vertreten.

Schritt 2: Teste die Positionen.

Sobald du dir sicher bist, dass deine Leser den Ursprungs-Charakter deiner Figur verstanden haben, kannst du damit beginnen, ihre Werte und Weltanschauung in Frage zu stellen. Was, wenn deine Figur das Gesetz vertritt, aber du auch von Anfang an klar gemacht hast, dass für sie Familie und Freunde besonders wichtig sind? Was wenn diese Figur, ihre Schwester beim Stehlen erwischt?

Wie weit würde deine Figur gehen, um ihre Werte zu verteidigen?

Welche Einstellung würde gewinnen? Wo liegen die Prioritäten deiner Figur? Und wo ihre Grenzen?

Scheue dich nicht davor, diese Entscheidungen eskalieren zu lassen, je weiter die Geschichte fortschreitet. Aber denke auch daran: Nicht jede Entscheidung muss gravierende Folgen haben. Manchmal sind es auch die kleinen Dinge, die viel über eine Person aussagen. Versuch eine gute Mischung aus großen und kleinen Entscheidungen zu erreichen.

(optional) Schritt 2.1:  Zeige wie andere Figuren auf ähnliche Konflikte reagieren.

Da sich deine Figur nich in einem Vakuum befinden wird, ist es für den Leser besonders interessant, wie andere Figuren auf ähnliche Situationen reagieren würden. Das gibt den Lesern eine Messlatte dafür, wie „normal“ deine Figur sich verhält und auch im späteren Verlauf der Geschichte, wie weit sich die Figuren verändert haben.

Schritt 3: Zwinge deine Figur zu einer Entscheidung.

Spätestens für den Höhepunkt deines Buches solltest du deine Figur zu einer Entscheidung zwingen. Diese Entscheidung sollte bezeichnend für ihre bisherige Entwicklung sein. Ist deine Figur stur und hält an ihren Ansichten fest? Oder lässt sie es zu, dass sie sich verändert?

Egal wie du dich entscheidest, lass deine Figuren die Konsequenzen tragen.

Interessant zu wissen: In den meisten Geschichten ist es so, dass Figuren mit statischem Charakter bestraft werden. Man denke an Azula aus Avatar – The Last Airbender, die bis zum Ende daran festhält, dass sich Menschen am Besten durch Angst kontrollieren lassen und deswegen am Ende alleine und verlassen ist. Oder man denke an Gollum aus Herr der Ringe, der am Ende wieder dem Ring verfällt und somit zu seinem alten Charakter zurückkehrt und dafür sterben muss.

Schritt 4: Festige die (neue) Position.

Dieser letzte Schritt wird leider allzu häufig vergessen: Wenn deine Figuren nicht durch Schritt drei ihren Tod gefunden haben, ist es nun an der Zeit dem Leser zu zeigen, dass sie sich wirklich geändert haben. Ähnlich wie in Schritt 2 solltest du deine Figuren vor neue Entscheidungen stellen, bei denen sie ihre neue Position „beweisen“.

Dabei kannst du auf Plotsymmetrie zurückgreifen. Wenn es die erste Entscheidung deiner Figur war, einem Bettler kein Geld zu geben (aus welchen Gründen auch immer), kannst du deine Geschichte damit beenden, dass sie einem Bettler Geld gibt. Dieser Spiegel zu früheren Entscheidungen zeigt dem Leser deutlich, wie sehr sich deine Figur verändert hat.

 

Ich möchte diesen kleinen Beitrag beenden mit einem Zitat, der meine Einstellung zur Charakterentwicklung sehr gut wiederspiegelt:

„Think of a caterpillar entering a cocoon. Once he does so, one of two things happen: He will either transofrm into a butterfly or he will die. But no matter what else happens, he will never climb out of the cocoon as a caterpillar. So it is with your protagonist.“

– Steven James, Story Trumps Structure

 


Was wäre dein Paradebeispiel für tolle Charakterentwicklung? Schreib es mir in die Kommentare!

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