In den meisten Geschichten tritt der Erzähler in den Hintergrund, am besten sollte man ihn gar nicht bemerken. Was würde aber nun passieren, wenn der Erzähler einem Protagonisten zugeordnet wird, den er überhaupt nicht leiden kann?
Finden wir es heraus. 😀
[Und schonmal im Voraus eine dicke Entschuldigung an alle, die Dieter heißen. Bitte nicht böse sein, aber der Protagonist brauchte einen Namen <3 ]
Dieter
Dies ist die Geschichte von Dieter. Dieter war ein *seufz* vollkommen durchschnittlicher Mann. Vollkommen durchschnittlich. Tatsächlich war er so durchschnittlich, dass es mir fast körperlich weh tut. In dem Haus neben ihm wohnte eine Frau, der es gelingen sollte, Krebs zu besiegen. Aber das hier ist nicht ihre Geschichte. Das hier ist die Geschichte von Dieter.
Dieter erwachte wie jeden Morgen mit dem Klingeln seines Weckers. Er erhob sich und ging ins Badezimmer. Hätte er aus dem Fenster gesehen, dann hätte er eine Katze gesehen. Diese Katze hätte ihn bemerkt und sich vor seinen Augen in ein gewaltiges Monster verwandelt. Denn sie war kein normales Tier, sie war ein Alien von einem anderen Planeten, das die Erde auskundschaftetete. Und Dieter hätte die Welt gerettet, indem er das Monster mit dem Rasenmäher besiegt hätte.
Aber nein, Dieter sah nicht aus dem Fenster, Dieter putzte sich die Zähne.
Gut gemacht, Dieter.
Nachdem Dieter an diesem Morgen also nicht die Welt gerettet hatte, ging er in die Küche und machte sich Frühstück. Eigentlich wollte er sich Müsli nehmen, aber er schaute zuerst in den Kühlschrank und bemerkte, dass ihm die Milch ausgegangen war. Also machte er sich ein Käsebrot. Hätte er (wie jeder normale Mensch) zuerst das Müsli in die Schüssel getan und nicht mit der Milch angefangen, dann wäre ihm aufgefallen, dass jemand in der Nacht sein Müsli gestohlen hatte. Und die Krümel, die der Dieb hinterlassen hatte, hätten Dieter direkt zu seinem Versteck geführt und Dieter wäre eine lokale Legende geworden, weil er den Müsli-Mosper dingfest gemacht hätte.
Aber nein, Dieter aß ein Käsebrot.
Tolle Entscheidung, Dieter.
Nachdem Dieter so professionell Ruhm und Ehre ausgewichen war, machte er sich auf den Weg zur Arbeit. Normalerweise wäre er mit dem Fahrrad gefahren, aber es sah nach Regen aus, deswegen nahm er das Auto. Wäre er mit dem Rad gefahren, dann wäre er von einem Tornado ergriffen worden. Von diesem Erlebnis, das er wie durch ein Wunder unverletzt überstanden hätte, hätte er noch seinen Enkelkindern erzählt.
Aber nein, Dieter fuhr mit dem Auto.
Ein Geniestreich, Dieter.
Dieter konzentrierte sich gewissenhaft auf seinen Bürojob. Hätte er zwischendurch aufgesehen, hätte er Christina gesehen, die neue Sekrätärin. Eine wunderbare Frau, intelligent und selbstbewusst. Er hätte sie angesprochen und sie hätten sich in der Mittagspause auf einen Kaffee getroffen. Die Funken wären gesprungen und nur ein paar Jahre später hätten sie geheiratet. Sie wären ein Leben lang glücklich zusammen geblieben.
Aber nein, Dieter konzentrierte sich auf seine Arbeit und Christina heiratete den Horst aus der Buchhaltung.
Du bist so ein Streber, Dieter.
Und es wird nicht besser. Nach der Arbeit beschloss Dieter, sich ein Eis zu holen, denn die Wolken hatten sich aufgelöst und die Sonne schien. Er hatte die Wahl zwischen zwei Eisdielen. Wäre er zu der gegangen, die ein wenig weiter entfernt war, dann hätte er ein Lotterie-Ticket auf der Straße gefunden und den Jackpot geknackt. Von dem Geld hätte er nie wieder arbeiten müssen und er hätte die Welt bereist und hunderte, nein, tausende Abenteuer erlebt.
Aber nein, Dieter war zu faul für einen 20 Meter weiteren Weg.
Erstklassige Arbeit, Dieter.
Für den Rest seines Lebens sollte Dieter nie wieder etwas Außergewöhnliches passieren. Er führte ein vollkommen durchschnittliches Leben, bekam einige durchschnittliche Kinder mit einer durchschnittlichen Frau. Und dabei war er glücklich.
Bäh.
(Bild von F. Lange, Twitter @Autorwesen)
Wenn ihr die Wahl hättet, würdet ihr den „Dieter-Weg“ oder eines seiner möglichen Abenteuer vorziehen? Und warum?
Haha das find ich witzig 😀
Ist ja auch die Frage, ob unser Dieter denn mit den Abenteuern glücklich geworden wäre 😀
Das ist die Frage! Aber da bin ich mir auch nicht ganz sicher 😀
Welchen weg man wählt kommt halt total auf die Sichtweise an. Aus Dieters sicht ist ja alles super, allerdings ist der Erzähler allwissend und kennt alle alternativen. Natürlich hoffe ich, dass ich aus all meinen Möglichkeiten die beste herausgefischt habe. Und ich hoffe sehr, dass das nicht so eine Dieter-Wahl ist. Aber wer weiß, was der Erzähler zu meiner Geschichte über mich denkt :D.
Ich zumindest finde es schon recht abenteuerlich, was ich so mache :D.
Das stimmt, wenn man allwissend wäre, dann sähe das eigene Leben wohl schon noch sehr anders aus. 😀
Aber ich glaube, ich wäre mit dem Dieter-Weg nicht unzufrieden 😛
Das war echt eine unterhaltsame Geschichte. 😀
Und ich hatte wirklich Mitleid mit dem armen Erzähler, du hast seine Genervtheit wirklich toll rübergebracht. Da beginnt man sich doch glatt zu Fragen, wie dieser Erzähler wohl die eigene Geschichte beurteilen würde.
Ganz egal, wofür man sich letzten Endes entscheidet, wenn man glücklich ist, hat man sich doch definitiv richtig entschieden. Und wenn Dieter (bei dem ich irgendwie an Vernon Dursley denken musste) mit seinem Leben so glücklich ist, dann hat er sich für sich doch richtig entschieden. 🙂
Das finde ich auch! Wenn man glücklich ist, dann hat man alles richtig gemacht.
Aber (wenn ich der Erzähler und allwissend wäre) wäre ich wohl genau wie dieser Erzähler 😀 Mich würde einfach alles „normale“/“langweilige“ totnerven!
Großartig! Und durchaus ein interessantes Konzept mit dem ich in letzter Zeit oft auch Gedankenspiele treibe. Denn alle wollen immer berühmt oder besonders oder ein Wunder sein. Aber was wenn man einfach gerne normal wäre? Keine Überraschungen, keine Wunder, kein Welt retten. Kombiniert mit dem genervten Erzähler bekommt das eine wunderbare Komik finde ich. 🙂
Wenn du mit dem Konzept des „Heldentums“ haperst, dann kann ich dir ein tolles Buch empfehlen. The Denial of Death von Earnest Becker (glaub ich). Das ist ein philosophischer Text über das Heldentum und wie das mit der Wahrnehmung des Todes zusammenhängt.
Sehr interessant. (Geht erstaunlich viel um Sex, aber der redet auch viel von Freud, da kann man nicht viel anderes erwarten. Ansonsten sehr viele neue Anregungen.) Da schreibe ich auch noch einen Blog Artikel drüber 😉