„The Programme“ von Herbert Eisner – Eine freie Nacherzählung

Diesen Sommer (2017) war ich im Urlaub in Holland. Durch einen Zufall (ich habe ein paar Bücher im Schaufenster gesehen) habe ich den ältesten Buchladen der Stadt entdeckt und ich musste mir ein paar Bücher als Andenken mitnehmen.

Eines davon war The Observer – Prize Stories, das eine Sammlung von Kurzgeschichten enthielt, die 1951 bei einem Kurzgeschichten Wettbewerb beim Observer (britische Zeitung) teilgenommen hatten.
Die Geschichte, die gewann, hat mich nicht wirklich aus den Socken gehauen, aber die zweite … war etwas ganz anderes. Da ich mir vorstellen kann, dass kaum einer diese Geschichten kennt, wollte ich sie hier durch eine freie Nacherzählung vorstellen.

Viel Spaß!

 

The Programme

Mit eiligen Schritten betrat er das dunkelrote Foyer und fingerte die Eintrittskarte aus dem Jackett. Er kannte die neue Programmverkäuferin nicht.
Sie bemerkte die verschwitzte Stirn des Mannes, doch sie tat es mit einem gelangweilten Blick ab. Bei ihren alten Jobs hatte sie mit viel seltsameren Menschen zu tun gehabt. Mit einem ausgestreckten Arm gebot sie ihm, durch die dämmrigen Gänge des Theaters zu folgen.
Der Weg war kurz, außerdem kannte er die Flure wie die Zimmer in seinem eigenen Haus. Es juckte ihm in den Fingern, sie zu einem schnelleren Tempo anzufeuern. Er durfte den Anfang der Oper nicht verpassen! Doch er hielt sich zurück und ließ sich geduldig von der jungen Programmverkäuferin den Weg weisen.
Er erreichte seinen Sitz, als die letzten stimmenden Töne aus dem Orchestergraben verklangen. Sie verschwand mit einem Nicken. Mit einem Seufzen ließ er sich in den weichen Sessel sinken. Es war ein altes Theater. Der Geruch von altem Holz und abgenutztem Stoff lag in der Luft. Und da war noch etwas, das er nicht beschreiben konnte. Es war die Erwartung des Publikums, die dem Saal seine ganz eigene Note verlieh.
Lange Streifen aus Licht fielen über die gefüllten Reihen. Zuspätkommende schoben sich Entschuldigungen murmelnd auf ihre Plätze.
Er wischte die schweißnassen Hände an seiner Hose ab. Seine Sitznachbarn mussten sein trommelndes Herz hören können! Es drohte aus seiner Brust zu platzen.
Die übersinnlich begabten Menschen im Publikum begannen zu applaudieren und es erhob sich ein rauschender Beifall. Der Kopf des Dirigenten erschien über den Orchestergraben, ein kurzes Nicken in Richtung der Zuschauer. Dann drehte er sich zu den Musikern, die Hände zu beiden Seiten ausgestreckt wie eine dürre Vogelscheuche.
Das Publikum verstummte.
Gleich würden sich die Vorhänge heben.
Gleich würde er sie wiedersehen.

Er hatte ein Taxi gerufen, nachdem er aus dem Flugzeug gestiegen war. Sein Gepäck hatte er zurückgelassen. Immerhin würde er nach der Aufführung sofort weiterfliegen.
Damals hatte er diese Oper nur durch einen Fehler entdeckt. Er hatte Karten für die falsche Vorstellung gebucht, denn mit Oper hatte er nichts am Hut gehabt. Doch nun war es eine Tradition. Jedes Jahr an seinem Geburtstag sah er sich diese Aufführung an. Und das seit 20 Jahren.
Auch die Kritiker hatten das Stück entdeckt. Als sie das Theater verließen und verträumt im drei viertel Takt in Straßenlaternen hineintanzten, da wurde auch ihnen klar, dass sie etwas Besonderes gefunden hatten. Jeder Musiker und Sänger, der etwas auf sich hielt, versuchte, einen Platz im Ensemble zu ergattern. Die besten Dirigenten wurden eingeflogen und die talentiertesten Künstler für das Bühnenbild engagiert. Die Kosten für einen Sitz schossen in die Höhe und kosteten bald das Vierfache des normalen Preises. Trotzdem war das Opernhaus stets zum Bersten gefüllt.
Die Ouvertüre begann mit zaghaften Tönen.
Die Musik versetzte ihn zurück an den Tag der ersten Vorstellung. Sie war die Braut gewesen. Ihr Make-up hatte sie von einer einschüchternd schönen Frau in ein unscheinbares Ding verwandelt. Doch als ihre Stimme erklang, strahlte ihre Schönheit durch die hellen Töne.

Vor Begeisterung hatte er ihr in der Pause eine Nachricht auf ein Programm gekritzelt und zu ihr bringen lassen. Unterschrieben hatte er nur mit seinen Initialen. Jedes Jahr schickte er ein Programm, auf dem er ihr seine Hochachtung ausdrückte.
Ohne Antwort.
Ihm war klar, dass sie in Briefen von liebestrunkenen Zuhörern ertrinken musste und seine zurückhaltenden Worte in der Flut der Bewunderer untergehen würden.

Trotzdem erfüllte ihn jedes Jahr aufs Neue die Hoffnung, dass sie ihm dieses Mal eine Nachricht zurückschicken würde.

Hinter dem Vorhang war sie.
Sie saß aufrecht an dem Schminktisch, der vorsichtig in der Mitte der Bühne drapiert worden war. Ihr gegenüber hockte der Mezzo-Sopran, eine junge Amerikanerin, fast noch ein Kind, die nun an ihrer Stelle die Braut sang. Sie lächelte der jungen Frau aufmunternd zu und der Mezzo-Sopran spuckte ihr Kaugummi aus und grinste zurück.

Auch mit ihren 38 Jahren war sie immer noch dieselbe hinreißende Schönheit von vor zwanzig Jahren. Ihre Stimme klang verzaubernder denn je.
»Sie hat die beste Stimme seit …«, sagten die Kritiker. Sie fanden nie einen Vergleich, der ihrer gerecht wurde.
Doch sie fühlte den Preis, den sie für ihre Stimme zahlen musste, in den Knochen.
Zu viele Termine, zu wenig Urlaub, zu wenig Schlaf und zu viele Schlaftabletten.
Sie kannte die Oper in sechs verschiedenen Sprachen und der Komponist bestand auf ihre Stimme. Ohne sie wurde diese Oper nicht aufgeführt.

Den Komponisten und sie verband schon immer eine Beziehung aus Respekt.
Ach was, sie schüttelte ärgerlich den Kopf, Respekt war keine Beziehung. Liebe, Vertrauen, vielleicht sogar Neid, all das war, was eine Beziehung ausmachte. Doch jedes Mal, wenn sie sich einem Mann näherte, war dort nichts als Respekt. Und die Männer, die ihr einst verliebte Briefe geschrieben hatten, waren nur verheiratet und bedachten sie nur mit einem »Oh, Schatz, schau! Das ist die berühmte Sängerin, die ich einmal kannte.«

Böse Zungen verbreiteten, dass sie in Vorbereitung auf ein Konzert tagelang mit niemandem sprach. Dass es ihr verboten war zu küssen, damit sie sich nicht mit irgendeiner Krankheit anstecken konnte. Und womöglich ihre Stimme verlor.
Sie sang nicht mehr die Braut, sondern die Prinzessin. »Unschuld wird am besten von jungen und unerfahrenen Sängern verkörpert«, hatte ihr der Komponist gesagt.
Ihre Verehrer hatten sie verlassen. Die einzige Post, die sie erhalten hatte, waren die aufgeregten Komplimente einer Person, die stets nur mit ihren Initialen unterschrieb. Sie nahm diese Programme zu jeder Show. Und jedes Jahr an diesem Tag kam ein Neues zu ihrer Sammlung hinzu.

Der Vorhang hob sich lautlos und eröffnete ihm den Blick auf die Bühne. Dort saß sie und er war ihr näher denn je. Über die Jahre hinweg hatte er sich der Bühne genähert. Von der Loge bis in die erste Reihe. Trotz des insgeheimen Wunsches, sie kennen zu lernen, hatte er nie den ersten Schritt gewagt.
Nein, er wollte, dass sie auf die Programme antwortete.
Es wurde zu einem Ritual, dass er sie für den Rest des Jahres aus seinem Leben verbannte. Er schaltete den Fernseher aus und wechselte den Radiosender, sobald ihr Name fiel.
Doch einmal hatte er seine Regel nicht einhalten können. Sie war zufällig auf einer Gala erschienen, bei der er gewesen war.
Sie hatten sich unterhalten.
Über Südamerika.
Er war kühl gewesen, bedacht darauf Abstand zu halten.
Sie hatte mit Enthusiasmus und glänzenden Augen davon erzählt, dass sie schon dorthin fliegen wollte,
seit sie ein kleines Kind war. Sie hatten sich erst getrennt, als ihre Anwesenheit von höherer Stelle verlangt wurde.
Er hatte ihr seinen Namen gesagt.
Und fragte sich, ob sie ihn erkannt hatte.
Dieses Jahr würde das Programm seinen vollen Namen tragen. Er hatte ihr ein Flugticket gekauft. Und wenn sie ihn dieses letzte Mal abwies, dann würde er sich diese ungesunde Obsession selber austreiben.
So oder so.
Dieses Jahr wäre das letzte, in dem er ihre Aufführung sah.

Sie saß am Schminktisch auf der Bühne und betrachtete ihr fahl geschminktes Gesicht im Spiegel. Die Arie des Tenors wusch über sie hinweg. Noch hatte sie Zeit. Es würde Minuten dauern, ehe sie das erste Mal den Mund öffnen musste.
Sie hatte noch drei, vier, wenn sie Glück hatte fünf Jahre ihrer Karriere übrig. Schon jetzt fühlte sie, wie jüngere Sänger an ihren Fersen nagten. Sie dachte zurück an die Gala, als sie ihn getroffen hatte.
Er hatte die Programme nicht erwähnt, die er ihr geschickt hatte. Und sie hatte sie auch nicht zur Sprache gebracht. Er würde nach Südamerika gehen, hatte er erzählt.
Ob er heute im Publikum saß?

Die Arie des Tenors endete in einem dramatischen Crescendo. Sie erhob sich, drehte sich zum Publikum und begann zu singen. Ihre Augen suchten ihn.
Er saß in der ersten Reihe. Ihr Herz machte einen Satz, doch ihre Stimme blieb glasklar.

Die erste Pause kam viel zu früh. Sein Herz klopfte immer noch. Sie hatte ihn gesehen. Sie hatte ihn gesehen!
Mit zitternden Fingern holte er das Programm aus seinem Jackett hervor.

Möchtest du mit mir mitkommen? Ich fliege nach Südamerika.

Er unterschrieb mit seinem vollen Namen.
Dann faltete er es klein.
Seine Hände begannen wieder zu schwitzen. Er winkte die neue Programmverkäuferin heran und überreichte ihr seine Nachricht.
Sie solle es in ihre Garderobe legen.
Die Programmverkäuferin nickte und entfernte sich. Sie mochte Männer wie ihn nicht. Diese Art von Männer, die meinten, sie könnten den Sängerinnen unziemliche Angebote machen, nur weil sie auf einer Bühne standen. Als sie in den Flur getreten war, sah sie sich verstohlen um und faltete das Programm auf. Sie schnaubte verächtlich.

Widerlich.
Sie zerknitterte die Nachricht und ließ sie achtlos auf den Boden fallen.


Hat dir die Geschichte gefallen? Was hältst du von einer Geschichte so ganz ohne Namen?

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2 Replies to “„The Programme“ von Herbert Eisner – Eine freie Nacherzählung”

  1. Vegan_Venja says:

    Oh wie traurig : (
    Ich habe so mitgefiebert, dass sie zusammen wegfliegen…
    Eine tolle Geschichte!

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    1. Sina Bennhardt says:

      Deswegen wollte ich auch, dass mehr Leute diese Geschichte kennen. Sie ist einfach so schön <3

      Antworten

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