Traumwelten, Kapitel 2

« zum ersten Kapitel

Es geht weiter mit dem zweiten Kapitel meiner neuen Kurzgeschichte. Ich hoffe, dass ihr nach dem Cliffhanger letztes Mal noch mit Eifer dabei seid 🙂

Viel Spaß beim Lesen.

Die Familie

Zwei Tage zuvor
Das schrille Piepen des Weckers riss Roman aus seinem Traum. Er stöhnte missmutig in sein Kissen und schlug mit geschlossenen Augen nach dem Teufelsding. Etwas heftiger als nötig brachte er das Gerät zum Schweigen und sank wieder in seinem Bett zusammen.
Was hatte er nochmal geträumt? Da war ein— seine Gedanken wurden von einer Stimme unterbrochen.

»Roman?! Bist du wach?«, rief seine Stiefmutter durch die Tür.

Mit einem erneuten Stöhnen drückte sich Roman aus den weichen Kissen und rieb sich die verschlafenen Augen. Draußen war es noch dunkel, nur die Straßenlaternen leuchteten in der Finsternis.

»Roman! Aufstehen!« Sie klopfte gegen die Tür.

»Ich bin wach, Birgit!«, rief er zurück. Sie hasste es, wenn er sie beim Vornamen nannte. Du darfst Mama zu mir sagen, hatte sie ihm vorgeschlagen. Roman schnaubte. Eher würde die Hölle zufrieren.
Die Tür wurde geöffnet und Birgit lehnte sich seufzend gegen den Türrahmen.

»Wie sieht es denn hier schon wieder aus?« Während sie das sagte, strich sie sich gedankenverloren über ihren Babybauch. Roman sprang aus dem Bett und räkelte sich gemächlich.

»Du könntest echt mal wieder aufräumen.«

Roman balancierte zwischen den Haufen aus leeren Essensverpackungen und Wäsche hindurch, bückte sich und schnüffelte an einem zerknitterten T-Shirt. Es roch … noch nicht ranzig. Er zuckte mit den Schultern und streifte es über. Er konnte den missbilligenden Blick von Birgit in seinem Rücken fühlen.
Provokativ fischte er eine angebrochene Tüte Chips aus einem besonders hohen Haufen und schob sich eine handvoll in den Mund. Sie waren abgestanden. Mit gerunzelter Stirn überprüfte er das Ablaufdatum. Abgelaufen vor zwei Monaten.
Roman ließ die Tüte zurück in den Haufen fallen und drehte sich zu Birgit um, die ihn kopfschüttelnd beobachtete.

»Du bist ja noch da«, bemerkte er mit gespielter Überraschung.

Birgit schüttelte den Kopf. »Wie kannst du nur so leben?« Roman antwortete nicht und eine Weile starrten sich die beiden aus der Entfernung an.
Sie verlor diesen stillen Kampf und stieß sich vom Türrahmen ab. »Das Frühstück ist fertig… und zieh bitte eine Hose an, bevor du zum Essen kommst«, sagte sie mit einem tadelnden Blick auf seine Boxershorts. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie die Treppe hinunter.

Roman stand etwas unschlüssig im Raum. Als er sich sicher war, dass sie nicht mehr zurückkehren würde, atmete er tief durch.
Er steuerte auf das große Fenster zu und riss es auf. Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht und strömte in den Raum. Roman blieb am Fenster stehen. Kahle Bäume raschelten im Wind und dunkle Wolken jagten über den Himmel. Der Himmel am Horizont leuchtete rot. Er fröstelte.
Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass es heute regnen würde.
Etwas unwillig schloss
Roman das Fenster wieder und mit einem Mal wirkte die Luft noch stickiger als vorher. Er zog seine Lieblingshose von einem Stapel und schlüpfte hinein. Dann schnappte er sich seinen Rucksack und machte sich auf den Weg nach unten.
Das Wohnzimmer glänzte vor Reinlichkeit. Im Vorbeigehen stieß er ein Kissen vom Sofa. Roman pfefferte seinen Rucksack unter den Tisch und fläzte sich auf einen Stuhl. Vor ihm war ein Buffet aufgebaut. Frischer Orangensaft, duftendes Brot, verschiedene Aufschnitte, Tomaten, Gurken, Milch, Cornflakes, gekochte Eier, Pfannkuchen …
Romans Magen knurrte. Sie gab sich wirklich Mühe.

Birgit lächelte ihn über den Tisch hinweg an. »Was möchtest du gerne essen? Ich habe auch noch eine Quiche im Ofen.«

»Wo ist Papa?«, fragte Roman, ohne auf ihre Frage einzugehen und schob sich eine Scheibe Toast in den Mund.

Ihr Lächeln schwankte ein wenig. »Er … musste heute schon früher auf die Arbeit. Aber ich habe mir gedacht, wir können die Zeit nutzen, um uns ein wenig besser kennen zu lernen. Wir haben immer noch nicht wirklich mit einander geredet, seit — «
Roman zog eine Grimasse und ließ das Toast zurück auf seinen Teller fallen.

»Ich habe keinen Hunger mehr. Ich gehe zur Schule.« Er tastete unter dem Tisch nach seinem Rucksack und warf ihn sich über die Schulter.

Birgit eilte um den Tisch herum und hielt ihn am Arm fest. »Roman, jetzt warte doch!«

Roman schenkte ihr einen eisigen Blick und sie ließ ihn schnell wieder los. »Ich meine …«, ihre Stimme brach, »Ich gebe mir solche Mühe mit dir. Ich verstehe nicht, was du gegen mich hast.« Sie sah zu Boden. Waren das etwa Tränen in ihren Augen? Sie sah auf und ihre Lippen zitterten. »Sag mir doch, was ich machen kann, damit wir uns besser verstehen!«

»Verschwinde einfach wieder«, knurrte Roman. Er wandte sich ab und durchquerte den Raum in wenigen Schritten.

»Roman!«, rief Brigit empört, »Nicht so schnell junger Mann!«

Instinktiv gehorchte Roman. Er blieb stehen und warf einen widerwilligen Blick über die Schulter. Birgit hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und zwischen ihren Augen hatte sich eine kleine Falte gebildet. »Ich verstehe nicht, was ich getan habe, das so ein Verhalten rechtfertigt!« Jetzt war sie wütend.
Roman presste die Lippen aufeinander und drückte den Rücken durch. Er fixierte sie mit festem Blick.

»Und ich verstehe nicht, wieso du Papa ficken musstest.«

Birgit fielen alle Emotionen aus dem Gesicht. Roman schlüpfte nach draußen, ehe sie sich fangen könnte.
Fast fühlte er sich schlecht. Er war gemein zu seiner Stiefmutter und dessen war er sich bewusst. Doch er lief den Weg zur Bushaltestelle hinunter, ohne sich umzudrehen.
Roman schüttelte den Kopf. Nein. Er hatte keinen Grund sich schlecht zu fühlen. Er war im Recht. Sie hätte seine Familie nicht zerstören dürfen.

 


« zum ersten Kapitel

nächstes Kapitel »

Wie gefällt euch die Geschichte bisher? Schon Spekulationen, was als nächstes passiert?

Teilen mit:

4 Replies to “Traumwelten, Kapitel 2”

  1. Katharina says:

    Oh, Birgit tut mir leid, das muss hart sein 🙈
    Aber Roman kann man natürlich auch verstehen! Wann gibt’s die Fortsetzung?
    Ach ja und deine Wortwahl, z.B. „fläzen“ bringt seine lässige Art gut rüber! Er soll doch lässig wirken, oder?

    LG Katharina

    Antworten
    1. Sina Bennhardt says:

      Ja, idealerweise soll er lässig wirken 😀 Ich versuche mich in dieser Kurzgeschichte mal mit „ausgefallenen“ Wörtern, die ich vielleicht nicht benutzen würde, wenn ich sie in ein „richtiges“ Buch schreiben würde. Bisher gefällt es mir ganz gut. Man kann beim Schreiben so richtig die Sau rauslassen 😉

      Das nächste Kapitel gibt’s nächsten Mittwoch. Das wird jetzt meine Mittwochs-Serie bis die Geschichte fertig ist.

      Ich freu mich total, dass es dir gefällt <3 Das motiviert mich total 🙂
      LG Sina

      Antworten
      1. Katharina says:

        Finde ich cool, dadurch kann man testen, welche Worte, welche Atmosphäre o.ä. aufbauen!

        Oh super, bin nämlich gespannt, wie sich alles zusammenfügt 🙂

        LG Katharina

        Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert